Epistel- und Evangelienseite
englisch: Epistle side, gospel side; französisch: Côté de l'épître, côté des évangiles; italienisch: Lato epistola, lato vangelo, cornu epistolae, cornu evangelii.
Für weitere Lit. s. Ambo (RDK I 634f.) sowie Kanzel Karl-August Wirth (1962)
RDK V, 869–872
Ep. = Epistelseite; Ev. = Evangelienseite.
Die beiden Schriftlesungen der römischen Messe werden herkömmlich von verschiedener Stelle im Altarraum aus vorgetragen. Die Epistel wird – in geosteten Kirchen – an der Südseite, das Evangelium an der Nordseite des Altars (bzw. Altarraums) verlesen. Die beiden Seiten heißen daher Ep. und Ev. (cornu epistolae, cornu evangelii).
Bisweilen werden die beiden Altarseiten auch Brot- bzw. Kelchseite genannt, weil links vom Priester, auf der Ev., das Brot, rechts von ihm, auf der Ep., der Kelch aufgestellt wurde (Otte Bd. 1 S. 129).
Über das Alter der Gewohnheit, ausgewählte Abschnitte aus der Hl. Schrift (seit 3. V. 16. Jh. als Perikopen bezeichnet) von unterschiedlichem Platz aus durch verschiedene Lektoren vorlesen zu lassen, geben die literarischen Quellen nur unzulänglich Auskunft; weiter zurück führen archäologische Anhaltspunkte (vgl. dazu Les questions liturgiques 4, 1914, 314–20). Möglicherweise knüpfte man in der frühchristlichen Zeit an Formen des Gottesdienstes in der Synagoge an, der ebenfalls zwei Schriftlesungen – Thoravorlesung und Haftara, „Gesetz“ und „Propheten“ – kannte (Ismar Elbogen, Der jüdische Gottesdienst in seiner geschichtlichen Entwicklung, Ffm. 19242).
Bei der Bischofsmesse oblagen beide Lesungen zunächst Lektoren. Im Abendland machte sich frühzeitig das Bestreben geltend, den Rangunterschied zwischen beiden Lesungen zum Ausdruck zu bringen. Die Evangelienlesung wurde dem Diakon, dem ersten Kleriker aus der Assistenz, übertragen, wohingegen ein Subdiakon oder ein in seinem kirchlichen Rang dem Evangelienlektor nachstehender Kleriker die Epistel (Perikopen aus allen biblischen Büchern, ausgenommen Psalter und Evangelien) verliest.
Die Plätze, von denen aus die Perikopen vorgetragen werden, sind ursprünglich von der Aufstellung des Bischofsstuhls im Scheitel der Apsis bedingt (RDK II 808ff.). Zur Rechten des Bischofs waren die vornehmeren Plätze, links die weniger ausgezeichneten. Dieser Stufung entsprechend, außerdem dem Rangunterschied der Lektoren gemäß, wurde das Evangelium von dem rechts vom Bischof stehenden Geistlichen verlesen, während die Epistellesung zu seiner Linken erfolgte. Beide Vorleser sollen – in Analogie zu Nehemia 8, 4 – von erhöhter Stelle aus dem Volk zugewandt, die Perikopen vortragen (Pontificale Romanum, De ord. lectoris: „Dum legitis, in alto loco ecclesiae stetis, ut ab omnibus audiamini et videamini“).
Die Gewohnheiten wandelten sich teilweise, als man – spätestens in karolingischer Zeit – den Bischofsstuhl nicht mehr im Apsisscheitel, sondern (meist) an der nördlichen Seitenwand des Presbyteriums (geosteter Kirchen) aufstellte, und als es sich einbürgerte, daß der Celebrans mit dem Rücken zur Gemeinde die Messe feierte. Die im Hoch-MA allgemein gewordene Orientierung der Kirchen gestattet, die nunmehr den Lektoren im Altarraum angewiesenen Plätze nach Himmelsrichtungen zu bezeichnen. Wie der Priester „contra altare“ steht, so auch der Subdiakon (Missale Romanum, Ritus serv. VI, 4) und der Diakon (ebd. VI, 5; über die widersprüchliche Angabe „contra altare versus populum“ s. [1], Bd. 1 S. 528). Nach wie vor richtet sich die Stellung der Lektoren nach dem imaginären Platz des Bischofsstuhls im Scheitel der Apsis, so daß der Diakon – von der Gemeinde aus gesehen – an der linken Altarseite, d. h. der nördlichen, der Ev., steht, hingegen der Subdiakon an der rechten, der südlichen, der Ep. Der Diakon wendet sich bei der Lesung gegen Norden, wo der Bischof thront (bei dem bischöflichen Pontifikalamt soll der Subdiakon das Buch, aus dem der Diakon das Evangelium vorliest, halten „vertens renes non quidem altari, sed versus ipsam partem dexteram, quae pro aquilone figuratur“: Caeremoniale episc. II, 8, 44). Zu allen Zeiten hat es jedoch lokale Abweichungen von dieser Regel gegeben. Viel Verwirrung hat insbesondere die Notiz im Ordo Romanus II n. 8 [2, S. 93 Anm. 6] gestiftet, die Gewohnheiten in (nicht orientierten) römischen Kirchen beschreibt.
Allegorische Erklärungen für die bei den Lesungen beachteten Gewohnheiten sind seit der späten Karolingerzeit bekannt.
Die am häufigsten wiederholte Erläuterung für die Evangelienlesung, die im „Liber de divinis officiis“ des um 908 gest. Remigius von Auxerre gegeben ist (als pseudo-alkuinische Schrift bei Migne, P. L. 101, Sp. 1250f.; über das Verhältnis zu Florus’ „De actione missarum“ s. Adolph Franz, Die Messe im dt. MA, Freiburg i. Br. 1902, S. 370 u. 405), besagt, im Norden sei der Sitz der Dämonen, denen zu wehren das Wort Gottes gegen Norden verkündet werde. Für weitere allegorische Auslegungen vgl. [1], Bd. 1 S. 529f., [2] und Franz a.a.O. Übrigens ist auch für von der Regel abweichendes Verhalten gelegentlich eine Auslegung gegeben worden. So heißt es im Trierer „Liber officiorum“ aus dem 11. Jh., die Stellung des Diakons nach Süden bedeute das in Liebe glühende Herz (Hoheslied 1, 6), das für die Herrenworte empfänglich sei (Franz a.a.O. S. 383).
Die Richtung der Evangelienlesung durch den Diakon wurde auch für die Perikopenlesungen bei der Presbytermesse maßgebend. Bei dieser scheint weiterhin der praktische Gesichtspunkt, daß man spätestens vom Offertorium an die rechte Seite des Altars für die Opfergaben frei haben wollte, dazu geführt zu haben, die erste, dem Offertorium vorausgehende Lesung, die Epistel, auf der südlichen Seite des Altars vorzunehmen. Daß die Platzverteilung der Lektoren allein auf dieses praktische Bedürfnis, das sich beim Lesegottesdienst einstellte, zurückzuführen wäre und die bei der Bischofsmesse beachteten Gewohnheiten lediglich Imitation dieser Praxis wären (so z. B. M. Darras in: Les questions liturgiques 15, 1930, 57ff.; [2], S. 95; Joh. Brinktrine, Die hl. Messe, Paderborn 19503, S. 114), ist wenig wahrscheinlich; allerdings kann sich diese Auffassung auf frühe Gewährsleute berufen (Honorius Augustod., Gemma animae I, 97: [2] S. 95 Anm. 1).
Gebräuche und Bestimmungen darüber, wie bei den Lesungen zu verfahren sei, spiegeln sich naturgemäß am sinnfälligsten in der Aufstellung von Kanzel(n) und Ambo(nen). Aus der Vielzahl diesbezüglicher Vorschriften seien hier nur die „Instructionum fabricae et supellectilis ecclesiasticae libri duo“ des Karl Borromäus erwähnt, die zuerst 1577 in Mailand und bis in die Gegenwart immer wieder – auch in italienischen und französischen Übersetzungen – gedruckt wurden. Buch 1 Kap. 22 bestimmt, daß in den Kirchen, die nur einen Ambo besitzen, dieser auf der Ev. aufzustellen sei; sind aber zwei Ambonen vorhanden, dann solle für jede Lesung einer benutzt werden und einer auf der Ep., der zweite auf der Ev. stehen (der Diakon wird angewiesen, sich beim Verlesen der Evangelienperikope nach Süden, dem Teil der Kirche, der den Männern vorbehalten ist, zu wenden). Sofern für Epistel- und Evangelienlesung nur eine Lesekanzel (pulpitum) zur Verfügung steht, soll diese auf der Ev. ihren Platz haben.
Literatur
1. Andreas Jungmann, Missarum sollemnia 2 Bde., Wien 19584; s. Bd. 2 S. 626f. (Reg.). – 2. Sauer S. 93–95 u. 128–30. – 3. Gerh. Kunze, Die gottesdienstliche Schriftlesung (= Veröffentlichungen der Ev. Ges. f. Liturgieforschg. 1), Göttingen 1947, S. 54ff.
Verweise
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