Ecce homo
englisch: Ecce homo; französisch: Ecce homo; italienisch: Ecce homo.
Karl-August Wirth (I, II und IV) und Gert von der Osten (III) (1956)
RDK IV, 674–700
I. Begriff, Schriftquelle
Als einziger der Evangelisten erzählt Joh. 19, 4f. in seinem Passionsbericht die Schaustellung Christi durch Pilatus: der von den Mißhandlungen der Geißelung, Dornenkrönung (s. Sp. 315–26) und der Verspottung gezeichnete Christus wird den vor dem Richthaus versammelten Juden vorgeführt; Pilatus erklärt der Menge, daß er keine Schuld an Christus finde (eine andere, hier nicht behandelte Darstellungsform für diese Textstelle ist die Handwaschung nach Matth. 27, 24: s. Pilatus, Passion) und appelliert an ihr Mitleid: „Sehet, welch ein Mensch!“ (ecce homo). Danach folgt die Verhandlung, die zur Verurteilung Christi führt; ihre Darstellung ist nicht streng von dem E. zu trennen: bisweilen halten die gestikulierenden Juden auf E.-Bildern Schriftbänder mit Inschriften nach Joh. 19, 6.
Der Sprachgebrauch verwendet die Bezeichnung E. für eine Reihe stark voneinander abweichender Darstellungen. Außer der Schilderung der Szene nach Joh. 19, 4f. werden auch Wiedergaben des gemarterten Christus ohne die Wundmale E. genannt. Abzulehnen ist die Bezeichnung E. für weitere Andachtsbilder wie Schmerzensmann, Christus im Elend, obwohl sie auf Sprachgewohnheiten des ausgehenden MA zurückgeführt werden kann.
Die Bezeichnung als Ecce homo findet sich inschriftlich mehrfach, vgl. etwa Schreiber, Hdb. Nr. 875, wo sie bereits in eine Wendung an den Beschauer gedeutet ist; später bei Jean Hay, Cellini, in Passau u. ö. Zunächst hat sich die Bezeichnung E. von der Verbindung mit der Gestalt des Pilatus losgelöst, kommt aber – gelegentlich schon in der 2. H. 15. Jh. – auch unabhängig von Darstellungen des E.-Christus selbst vor; sie ist beim Christus im Elend (Paul Heitz, Einblattdrucke des 15. Jh., Straßburg 1939, Bd. 98 Nr. 17: um 1480/90; Halle, Dom, inneres Bogenfeld über dem Kanzeleingang, 1526; Erfurt, Severikirche, 1576) und beim Schmerzensmann (Heitz a.a.O. Bd. 88 Nr. 2, Bd. 26 Nr. 22, Bd. 95 Nr. 27; Geisberg, Einblattholzschnitt Nr. 1500; usw.) anzutreffen: der in den Pilatusworten enthaltene Wesenszug einer Zurschaustellung, das „E.-Motiv“, wurde auf andere Andachtsbilder übertragen (s. hierzu Dagobert Frey, Fs. f. Jul. Baum, Stg. 1952, S. 120f.; Ernst Grohne, Die bremischen Truhen mit reformatorischen Darstellungen usw., Abh. u. Vorträge hrsg. v. d. Bremer Wiss. Ges. 10, 2, 1936, S. 23). In alledem liegt freilich eine Verallgemeinerung, die um so leichter dann von Nietzsche säkularisiert werden konnte.
II. E.-Szene
A. Anfänge
Aus frühchristlicher Zeit sind keine Darstellungen der E.-Szene bekannt; die dieser Epoche eigene Abneigung gegen bildliche Gestaltungen des leidenden Christus erlaubte keine Schilderungen des E. Auch in der Patristik spielt das E. unter allen Passionsereignissen die geringste Rolle; schon die knappe, doch eindringliche Beschreibung der schmachvollen Verhöhnung Christi bei Augustinus (In Ioannis Evang. Tract. 116, Kap. 19, 2; Migne, P. L. 35, 1941f.) steht ziemlich isoliert. Im Cod. Rossanensis, 3. V. 6. Jh., wo den Christus-Pilatusszenen erstmals mehrere Abbildungen gewidmet sind, erkennt Neuß [3] eine Vorstufe des E.-Bildes (Vorführung von Christus und Barabbas; [1] Bd. 2, Abb. 407).
Die ältesten Belege für das Vorhandensein von E.-Darstellungen finden sich auf einem Goldring des 7. Jh. (?) aus Syrakus [2, Abb. 3899] und im Cod. 48 der Stiftsbibliothek St. Gallen, Ende 9./ A. 10. Jh.; beide sind mit griechischen Inschriften versehen und geben damit einen Hinweis auf die östliche Herkunft der ältesten Bildkonzeption des E.
Auf fol. 129 hat der Schreiber des St. Galler Kodex in griechischer und lateinischer Sprache die Tituli und Beischriften der Miniaturen, die seine Vorlage aufwies, aufgezeichnet; demnach fand sich im Johannesevangelium zwischen der Verspottung Christi und dem Kreuzigungsbild eine Miniatur „Σιδε (uide uel ecce) ο βασιλευσ (rex) τωμ ιουδαιωμ (iudaeorum)“: zit. nach Samuel Berger, Mém. de la Soc. Nat. des Antiq. de France 52, 1891, 147. Beissel (Evangelienbücher S. 240) u. a. haben aus diesem Titulus auf eine E.-Darstellung geschlossen [3, S. 125].
Die älteste derzeit bekannte Schilderung der E.-Szene findet sich auf einem Elfenbeinrelief des 9. Jh. im B.M. London (Goldschmidt, Elfenbeinskulpturen Bd. 1, Nr. 133 a): Christus, der die Dornenkrone trägt und einen Rohrstab in der Hand hält, wird von zwei Knechten vorgeführt (vgl. für dieses Motiv die Lipsanothek in Brescia); Pilatus ist von Kriegern umgeben, die anklagenden Juden fehlen.
Unter den vereinzelt erhaltenen Beispielen aus der ottonischen Buchmalerei sind zwei Formen der Überlieferung zu erkennen. Die eine, charakterisiert durch die Gestaltung des E. als selbständiges Bild, vertritt die Miniatur der sog. Farfabibel (Rom, Bibl. Vat. lat. 5729, fol. 369 v: Josep Gudiol i Cunill, Els Primitius III: Els llibres il luminats [= La pintura medieval catalana 3], Barcelona 1955, S. 102, Abb. 46): aus dem Richthaus heraustretend führt Pilatus den Juden Christus vor. – Die zweite Gruppe bilden die deutschen Beispiele, die – sämtlich in einer einheitlichen Überlieferung stehend – das Thema in Verbindung mit den vorausgegangenen Passionsszenen behandeln: im Egbertkodex (Trier, Stadtbibl. cod. 24, fol. 82) zeigt Pilatus den mit dem Purpurgewand bekleideten Christus den „pontifices“ und „milites“, die vor Christus das Knie beugen; die Verspottungsszene wird – gleichsam verspätet – nachgeholt. Das für Bremen bestimmte Echternacher Perikopenbuch Heinrichs III. (Bremen, St.B. Ms. 21, fol. 53 v; Abb. 1) ergänzt noch einen Krieger, der Christus die Dornenkrone aufs Haupt setzt. Beim Cod. Epternacensis des G.N.M. erscheint das Motiv der Vorführung Christi in abgewandelter Form in Verbindung mit Kreuztragung und Dornenkrönung (Sp. 315/16, Abb. 1). – Beide Darstellungen blieben ohne Nachfolge.
Die motivisch mit Darstellungen des Verhörs Christi übereinstimmende Miniatur der Hs. Rheinau 167 in der Züricher Zentralbibl., 2. V. 13. Jh. (Swarzenski, Hss. 13. Jh. Abb. 665), ist durch Abbildung Christi mit Spottmantel und Dornenkrone der E.-Szene angenähert.
B. 1. H. 15. Jh.
Erst nach langer Pause wurde – unbekannt warum – im frühen 15. Jahrhundert die E.-Szene wieder dargestellt. Nunmehr wurden die für Jahrhunderte gültigen neuen Bildformen geprägt. Offenbar bestanden verschiedene Anregungen, unter denen – nach den häufigsten Vorkommen von E.-Bildern zu schließen – folgende am bedeutsamsten erscheinen:
Seit A. 15. Jh. begegnet das E.-Bild innerhalb von Passionszyklen, die sich gegenüber älteren Folgen durch größte Ausführlichkeit auszeichnen. Sie treten in verschiedenen deutschen Landschaften gleichzeitig, doch unabhängig voneinander auf und gehen vielleicht auf gemeinsame Vorbilder zurück; manches deutet darauf hin, daß die spät-ma. Redaktion des Passionszyklus im burgundischen Kunstkreis besorgt wurde. Vgl. hierzu Passion Christi.
Sehr oft finden sich E.-Darstellungen auf Epitaphen, wo sie neben Schmerzensmann, Gregorsmesse, Kreuzigung Christi usw. zu den Lieblingsthemen des 15.–17. Jh. zählen. Diesen E.-Bildern ging seit der 2. H. 13. Jh. eine ständig wachsende Beschäftigung mit dem E. in der theologischen Literatur, vornehmlich in der homiletischen, voraus. Sie begründete die Interpretation des E., die seine Aufnahme in den Themenkreis der Sepulkralkunst ermöglichte; vgl. z. B. eine Berthold von Regensburg († 1271) zugeschriebene Karfreitagspredigt (Fr. Göbel, Die Predigten von B. v. R., Regensburg 1884, Bd. 2 S. 250–257).
Berthold sieht im E. die tiefste Erniedrigung Christi und schließt aus der Größe der Schmach auf das Ausmaß der menschlichen Sündenlast, die damit gebüßt werden sollte; alle Gläubigen fordert er auf, sich durch die Vergegenwärtigung des E. rühren zu lassen und ihre Sünden im Hinblick auf das andere E. am Gerichtstag zu bereuen.
Spät-ma. Schriftsteller und Prediger haben den knappen biblischen Bericht durch veranschaulichende Motive ausgestaltet. Eine ganze Reihe solcher Motive ist in geistlichen Schauspielen nachzuweisen, ihr Alter läßt sich allerdings kaum mit Sicherheit bestimmen. Mit der Möglichkeit einer Beeinflussung der bildenden Kunst durch die Passionsspiele ist zu rechnen, wenn auch nicht in dem Umfang, wie Mâle annahm: zumeist sind Schauspiel und bildliche Darstellung Parallelerscheinungen, die eine gemeinsame Wurzel haben (vgl. [9] S. 14f. und Alb. Rapp, Stud. über den Zusammenhang des geistlichen Theaters mit der bild. K. im ausgehenden MA, Diss. München, Kallmünz 1936, S. 91ff.).
Darstellungen der E.-Szene aus der ersten Hälfte 15. Jh. sind ziemlich selten; die meisten Beispiele finden sich in Niederdeutschland. Sie unterscheiden sich in motivischen Einzelheiten z. T. beträchtlich, dennoch gleichen sie sich in den für die Gesamtkomposition entscheidenden Zügen: Pilatus, in kostbarer, höfisch-modischer Gewandung, tritt aus dem Richthaus und zeigt den Juden Christus; dieser trägt den Spottmantel und die Dornenkrone, seine Arme sind vor dem Körper gekreuzt (Winterfeld-Diptychon der Danziger Marienkirche, um 1425: Stange 3, Abb. 294; Bamberger Altar von 1429 im B.N.M., [9] Abb. 1; ein ehem. in Kölner Priv.bes. befindliches seeschwäbisches Tafelbild, um 1450, zeigt Christi Hände im Gebetsgestus: Stange 4, Abb. 38) oder hängen schlaff herab (Hannover, L.M., Lüneburger Goldene Tafel, um 1420, Abb. 2; zumal in Lübeck scheint diese Haltung beliebt gewesen zu sein: Konsole im sog. Herrenzimmer des ehem. Burgklosters, um 1415: Carl Gg. Heise, Fabelwelt des MA, Bln. 1936, Abb. 22; Horenaltar des Lübecker Domes, um 1420: Stange 3, Abb. 250; so noch Bernt Notke, Altar in Aarhus, 1479: Harald Busch, Meister des Nordens, die altdt. Mal. 1450 bis 1550, Hamburg 1943, Abb. 72. – Ferner: Köln, K.G.M., Tafelbild des 2. V. 15. Jh.: Heribert Reiners, Die Kölner Malerschule, M.-Gladbach 1925, Abb. 57). Im Gegensatz zu späteren E.-Bildern ist Christus nie gefesselt und hält er das Spottzepter nicht in der Hand. Pilatus führt ihn an der Hand oder faßt ihn beim Mantel, dadurch den von Wunden bedeckten, nur mit dem Lendenschurz bekleideten Körper Christi entblößend. Dieses Motiv ist in einer Regieanweisung des Donaueschinger Passionsspiel ausdrücklich gefordert: „Nu gat Pilatvs vnd nimpt den Saluator vnd fürt in her für vnd hept im den mantel vff vnd spricht zun Juden ...“ (Ed. Hartl, Das Drama des MA. Passionsspiele II, Lpz. 1942, S. 209). Die beiden, nicht selten durch ihre Größe gegenüber den Juden hervorgehobenen Hauptfiguren treten aus dem Richthaus, das in den ältesten Beispielen als kastenartiges Raumgehäuse dargestellt und den Figuren wie ein Baldachin zugeordnet ist; noch im 2. V. 15. Jh. wird die Architektur komplizierter: Christus und Pilatus erscheinen auf einem Beischlag oder auf einer Tribüne (ohne Balustrade), durch offene Fenster blickt man ins Innere des Gebäudes, wo die Geißelung bzw. die Geißelsäule mit den Geißelknechten dargestellt ist (Winterfeld-Diptychon; Goldschmiedealtar in der Kreuzkapelle der Danziger Marienkirche, um 1440: Willy Drost, Danziger Mal. vom MA b. z. Ende des Barock, Bln. u. Lpz. 1938, Taf. 19; Köln, Priv.bes., s. o.). Unter der Empore oder Stiege wird ein Kerkerfenster sichtbar (Köln, K.G.M., s. o.). Die Ankläger Christi sind durch ihre Kleidung nicht charakterisiert; ein Bischof ist wohl als Kaiphas zu deuten, dessen Anwesenheit bei der Schaustellung als Wortführer gegen Christus in Passionsspielen mehrfach belegt ist (hierzu und zu der Darstellung des Kaiphas als Bischof vgl. [9] S. 15f.). Im Hintergrund stehen, nach Ritterart gerüstet, die Krieger des Pilatus; sie halten Speere und Wimpel mit der Inschrift S.P.Q.R. und beteiligen sich nicht an dem Geschrei der Juden, das bei den älteren Beispielen noch nicht von wilden Gebärden begleitet ist; es wird lediglich durch Schriftbänder mit der Aufschrift „(tolle) crucifige(eum)“ angedeutet. In demselben Maße, wie die Menge räumlich von Christus und Pilatus getrennt wird, nimmt die Drastik der Erzählung zu; zugleich bereitet sich eine Entwicklung vor, die durch Frontalisierung der zunächst regelmäßig im Dreiviertelprofil erscheinenden Hauptfiguren und streifenförmige Anordnung – die Ankläger stehen vor der hohen Brüstung des Praetoriums – gekennzeichnet ist (Abb. 3; eine Vorstufe: Goldschmiedealtar der Danziger Marienkirche, s. u.).
C. 1450-1550
Im Zeitraum von 1450–1550, der Blütezeit des szenischen E.-Bildes, sind diese Ansätze konsequent fortgeführt worden. Verschiedene Überlieferungen, die sich gegenseitig vielfach beeinflußt haben, stehen nebeneinander (die im folgenden aufgeführten Beispiele geben Hinweise auf landschaftlich bevorzugte Motive).
Christus erscheint jetzt regelmäßig mit entblößtem Oberkörper, und seine vor dem Unterkörper gekreuzten Arme sind nur ausnahmsweise nicht gefesselt (z. B. Altmühldorf, Pfarrkirche, Altar von 1511; Abb. 4). Selten trägt Christus kein Lendentuch unter dem Spottmantel (Gem. des Hieron. Bosch im Staedel, Ffm.: Friedländer Bd. 5, S. 91; kölnische Beispiele bei Reiners, a.a.O. Abb. 129 und 283). Auf den Einfluß von Bildwerken des Schmerzensmannes – nicht umgekehrt! – gehen die vor der Brust gekreuzten Arme Christi zurück: Mihla in Thüringen, Altarrelief um 1490 (Inv. Thüringen 15, Taf. n. S. 520); Ehrenfriedersdorf, E. im Gesprenge des Altares, um 1510 (Ed. Flechsig, Sächs. Bildnerei und Malerei v. 14. Jh. b. z. Reformation Bd. 3, Lpz. 1912, Taf. 1–3); Bamberger Domschatz, Passionsteppich Ende 15. Jh. (Kurth, Bildteppiche I S. 188f., III Taf. 309); Dürer (B. 35). Christus trägt zumeist starke Spuren der vorausgegangenen Peinigungen, sein Schritt ist schwankend, der Oberkörper vornübergebeugt: nur selten – z. B. auf Boschs Bostoner Bild [12, S. 7, Abb. 1 u. 2] – erscheint er als der von aller Folter ungebrochene König, wie ihn die älteste Tradition auffaßte: „Seht an alle und Nemendt war / Das ist noch eur König zwar“ kommentiert Pilatus im Tiroler Passionsspiel (hrsg. v. E. Wackernell, V. 2208f.; ebenso im Heidelberger Passionsspiel des 14. Jh.). An Stelle von Pilatus führt ein Kriegsknecht Christus den Juden vor: im Tiroler Passionsspiel (V. 2203–07) weist Pilatus seine „Ritter“ an, Christus vorzuzeigen. Während bei den vor M. 15. Jh. entstandenen E.-Bildern die Darstellung der Figuren im Vordergrund stand und die Architekturmotive nur ganz allgemein den Ort des Geschehens andeuteten, wurden nach 1450 die immer komplizierter angelegten Architekturen für die formale Gestaltung der E.-Bilder entscheidender: sie lieferten das Bildgerüst, in das die Figuren eingefügt sind. Aus architektonischen Einzelmotiven wurden vielteilige Phantasiearchitekturen zusammengefügt; offene Türen und Fenster gewähren Einblicke in Innenräume und Annexbauten, in denen Nebenszenen Platz finden. Zögernd treten Renaissanceformen auf. Im allgemeinen ist die Architektur so angelegt, daß zwischen Christus und der Volksmenge eine starke räumliche Trennung entsteht, hervorgerufen durch hohe, manchmal mehrläufig geführte Treppen (Boppard, Fresko der Karmelitenkirche, 4. V. 15. Jh.: [5] S. 290f., Abb. 296; Speyerer Altar des Hausbuchmeisters, 1482, Freiburg i. Br., Augustinermus.: [9] Abb. 4) oder hohe Tribünen. Bei einfacheren Beispielen, zumal bei Holzschnittillustrationen (fast alle E.-Bilder der Frühdrucke: s. Achtnich S. 45) und Werken der Reliefplastik (z. B. Wien, St. Stephan, Chorgestühl, um 1500: Ernst Klebel, Das alte Chorgestühl zu St. Stephan in Wien, Wien 1925, Abb. 106; ebd., Schatzkammer, E.-Relief des Michel Tichter, um 1515: Karl Oettinger, Anton Pilgram und die Bildhauer von St. Stephan, Wien 1951, Abb. 99; Münster i. W., Diöz. Mus., Epitaph aus Vinnenberg, um 1515: Inv. Westfalen 42, Abb. 586), hielt sich der aus wenigen, oft annähernd in Isokephalie dargestellten Figuren bestehende Bildtypus länger als in der Malerei, wo er – mit Ausnahme von Schlesien (vgl. Heinz Braune und Erich Wiese, Schles. Malerei und Plastik des MA, Lpz. o. J., Taf. 109, 119, 132, 219 u. 228) – im 3. Dr. 15. Jh. ausklingt: vgl. die aus Passionsaltären stammenden bambergischen und salzburgischen Tafeln im G.N.M., um 1460/70 bzw. 1490 (Kat. 1937 Abb. 133 und 298), und die schwäbische (Ulmer?) im B.N.M. (Kat. 1908 Nr. 270); eine charakteristische Übergangsform zu den während der ganzen Spätgotik üblichen Bildformen zeigt das 1494 dat. Tafelbild des Mus. in Rothenburg o. T. (Ernst Gall, Rothenburg o. T. [= Dt. Lande – Dt. K.], Mchn. u. Bln. 1955, Abb. 42). – Auf niederländische Anregungen geht die topographisch getreue Schilderung von Straßen- und Städtebildern zurück, die zunächst die Bildhintergründe ausfüllt, aber bald auch die Architekturen des Vordergrundes einbezieht. Aus der Fülle der Beispiele seien ein niederdeutsches Gemälde des Hzg. Anton-Ulrich-Mus. Braunschweig, 1506 dat. (s. u.), und ein im Mus. ma. Österr. Kunst in Wien aufbewahrtes Beispiel von Urban Görtschacher, 1508 (Kat. 1953, Abb. 28), genannt.
Die 1480 bei Anton Sorg in Augsburg erschienene Passion (fol. 62 r; Schramm, Frühdrucke 4, S. 17) verlegt die Schaustellung Christi in ein Fenster des Praetoriums; dieses Motiv kehrt wieder z. B. bei Dürers E. in der Kleinen Passion (B. 35) und bei Schäufelein (Auhausener Altar, 1513, u. a.). Die Treppe oder die hohe Tribüne, auf der die Hauptpersonen – jetzt meist von einigen Kriegsknechten umgeben – stehen, überwölbt einen Kerker, aus dessen vergittertem Fenster Gefangene (Barabbas und die Schächer?) herausschauen. An den Gitterstäben ist öfters ein Hund – nach [11] als „Requisit des vornehmen Milieus“ zu deuten – oder ein Affe angekettet (Ernst Robert Curtius, Europäische Lit. u. lateinisches MA, Bern 1948, S. 524f.; W. H. Jonson, Apes and Ape Lore [= Stud. of the Warburg Inst. 20], London 1952, S. 150 und 160 Anm. 22).
Vielgestaltige Möglichkeiten bot die Darstellung des Volkes; außer Kaiphas (s. o.) und anderen, durch ihre Kleidung meist als Angehörige der privilegierten Stände ausgewiesenen Juden sind seit 3. Dr. 15. Jh. zunehmend Personen des einfachen Volkes dargestellt [9, S. 26, 32f.]. Vereinzelt begegnen auch Maria (und Johannes), deren Anwesenheit bei der Schaustellung z. B. der Passauer Kanonikus Peter Wann in seinen 1460 gehaltenen Passionspredigten beschreibt (Frz. X. Zacher, Die Passion des Herrn [= Schriften dt. Lit. 12], Augsburg 1928, S. 82): Holzschnittillustration der E. 15. Jh. in Lübeck erschienenen „Navolghinge Christi I-III“ (Schramm a.a.O, 12, Abb. 153); Außenseiten des um 1520 entstandenen Flügelaltars in St. Jacques zu Brügge (Friedländer 9, Taf. 86). Aus einem Fenster oder von einem der dicht bevölkerten Balkone sieht die Frau des Pilatus der Schaustellung Christi zu (Abb. 4); dieses Motiv entstammt vielleicht der niederländischen Kunst, ebenso wie der sich in wilder Bewegung vom Volkshaufen lösende und die Treppe hinaufstürmende oder kniende „cursor“, der beim Einzug Christi in Jerusalem gläubig gewordene nichtjüdische Knecht des Pilatus (vgl. Passionsspiele und [9] S. 24f.); Schongauers Kupferstich B. 15 (ähnlich vielleicht der verlorene Biberacher Passionsaltar, um 1490: A. Angele, Heilige Kunst 1953, 44ff.) fand Nachfolge in der Plastik (Wilfried Thöllden, Die Wirkung der Schongauerstiche auf die dt. Plastik um 1500, Dresden 1938, S. 73f.; Justus Bier, Das Münster 8, 1955, S. 142 Abb. 3; für das E.-Relief des Hochaltars der Marienkirche Salzwedel, um 1510/20, vgl. Ferd. Stuttmann u. Gert von der Osten, Niedersächs. Bildschnitzer des späten MA, Bln. 1940, Taf. 112).
Seit 3. Dr. 15. Jh. erscheint die E.-Szene auf Gemälden, die verschiedene Passionsereignisse in einem Bilde nebeneinander aufreihen (bisweilen wenig glücklich als „Passionslandschaft“ bezeichnet).
Die überwiegende Mehrzahl der Beispiele entstammt der niederländischen und niederdeutschen Kunst: Meister des Schöppinger Altars, Pfarrkirche Schöppingen, um 1460/70; Tafeln des Hans Bornemann (?), um 1470, und eines bremischen (?) Meisters von 1474 im Roseliushaus in Bremen: alle bei Busch a.a.O. Abb. 7, 42, 240; Hans Memling, Passionsbild für Tommaso Portinari in Turin, Pin., um 1470 (Friedländer 6, Taf. 26), und Lübecker Passionsaltar, 1491 (C. G. Heise, Der Lübecker Passionsaltar von H. M., Hamburg 1950, Abb. 48); auf Grund einer in der Crocker Art Gall., Sacramento, befindlichen Nachzeichnung darf auch Hier. Boschs Tafelbild in Philadelphia als Fragment eines größeren Passionsbildes angesehen werden [12, S. 5]; Aachen, Suermondt-Mus., Meister des Aachener Altares (Reiners a.a.O. Abb. 281); s. aber auch die Fresken von Scherzlingen, 3. V. 15. Jh. (Max Grütter, A. S. A., N. F. 30, 1928, S. 165ff., Taf. 11).
Nur wenig jünger sind solche E.-Darstellungen, die mit dem E.-Thema andere Nebenereignisse der Passionsgeschichte zu einem einheitlichen szenischen Bilde verschmelzen. Wahrscheinlich verdanken die bildlichen Darstellungen dieser Art den Passionsspielen bedeutsame Anregungen; war doch mit diesen die – für solche Bilder vorauszusetzende – Existenz einer aus den abweichenden Evangelienberichten zusammengestellten Passionsgeschichte, in der das E. seinen chronologisch genau bestimmten Platz hat, gegeben. So ist z. B. die Verknüpfung von E. und Handwaschung des Pilatus (oder der Vorbereitung dazu) bei den Passionsspielen sehr häufig anzutreffen (vgl. aber auch Pilatus), ebenso die gemeinsame Schaustellung von Christus, Barabbas und den Schächern. Ein sehr charakteristisches Beispiel bietet das bereits genannte Gemälde von 1506 im Braunschweiger Mus. (Busch a.a.O. Abb. 472ff.). Auf den Einfluß der Kreuzwegandacht ist die Verkoppelung von E. und Überantwortung Christi an die Juden zurückzuführen (Christus im Begriff, die Stiegen herabzuschreiten):
Vgl. z. B eine Holzschnittillustration des Schatzbehalters, Nürnberg, A. Koberger, 1491 (Schramm a.a.O. 17, Abb. 389); Kaisheimer Altar Hans Holbeins d. Ä., München, A. Pin., 1502 (Kat. 1936, S. 110ff.); Mühldorfer Altar (Abb. 5); Jan Massys (?), Tafelbild, ehem. in Pariser Kunsthandel (Aukt.Kat. Haro, Paris, 12. Dez. 1911, Nr. 130, dort fälschlich H. Goltzius zugeschrieben).
Die von der Haupthandlung ablenkenden Nebenszenen beschränkten sich seit E. 15. Jh. nicht mehr allein auf unmittelbar mit den Passionsereignissen verbundene Handlungen: auch innerhalb der Volksmenge trifft man auf Gruppen, die eigenen Alltagsbeschäftigungen nachgehen, auf spielende Kinder (etwa Reiners a.a.O. Abb. 279; Drost a.a.O. Taf. 41; Abb. 4) u. dgl. Sie überwucherten das Bild mehr und mehr, bis schließlich – wie z. B. auf einem ehem. in Londoner Kunsthandel befindlichen Gemälde des P. Aertsen, um 1550 (Friedländer 13, Nr. 310), das Motiv des E. kaum mehr als eine Staffage bei der Darstellung eines städtischen Marktbetriebs abgab (Abb. 5; ähnliche Beispiele bei Ludwig Baldaß, Jb. d. kh. Slgen. Wien 36, 1923, S. 26f. u. 30, Abb. 25 u. 27).
Diese Erweiterung ist zwar für die Mehrzahl der E.-Bilder des vorgerückten 16. Jh. bezeichnend, doch nicht für alle. Umgekehrt zeigen andere Denkmäler seit dem 2. Jahrz. 16. Jh. eine neue Konzentration auf den Hauptvorgang und sind durch den Verzicht auf Darstellung größerer Volksmengen gekennzeichnet. Diese Entwicklung ist auf den Einfluß des E.-Andachtsbildes zurückzuführen (s. u. III). In dem Stich des Lucas van Leyden von 1513 (B. 70) sind von der Volksmenge nur einige Köpfe zu sehen, der von Pilatus und einem Knecht flankierte Christus beherrscht eindeutig das Bild, das damit unmittelbarer als die früheren szenischen E.-Darstellungen zu einer materia meditandi wird (die Entwicklung hierzu ist an den Beischriften der szenischen E.-Bilder der 2. H. 15. Jh. abzulesen). Die gleiche Tendenz zur Herauslösung des E. aus dem historischen Passionsbericht lassen die etwa gleichzeitig häufiger werdenden E.-Bilder, auf denen Stifter in bedeutender Größe, z. T. von Heiligen empfohlen, neben oder an Stelle der Volksmenge dargestellt sind, erkennen (z. B. Gem. im Pfarrhaus von St. Ursula in Köln, 1. Dr. 16. Jh.: Reiners a.a.O. Abb. 283; Epitaph Wagner, Stein bei Krems, nach 1519: Oettinger a.a.O. Abb. 197); Epitaph Andreas Behr von Sprembergk [† 1513]. Schloßkirche Oels i. Schl.: Braune u. Wiese a.a.O. Taf. 228).
Von besonderer Bedeutung für die Überlieferung der verschiedenen Bildformen der E.-Szene ist die Druckgraphik des 16. Jh., die das Thema in Einzelblättern, Bilderfolgen und Buchillustrationen behandelte; in Passionsfolgen des 16. Jh. fehlte die E.-Szene nie. Als Beispiele für ihr Vorkommen in erbaulichen, belehrenden und heilsgeschichtlichen Bilderreihen oder Buchillustrationen seien Albr. Altdorfers Fall und Erlösung der Menschheit von 1515 (Hollstein, German Engr. 1, S. 241) und die zu Arian Montanus’ Humanae salutis monumenta (Antwerpen 1571) von Pieter Huys nach P. van der Borcht IV. geschaffenen Illustrationen genannt (Ders., Dutch Fl. Engr. 9, S. 169).
Es ist nicht möglich, auch nur die meistverbreiteten Passionsfolgen des 16. Jh. aufzuzählen; s. Passion. Dürer steht als Schöpfer mehrerer Passionszyklen keineswegs vereinzelt. Lucas van Leyden schuf – abgesehen von den bedeutsamen, nicht zu einem Zyklus gehörenden E.-Stichen B. 70 (s. o.) und 71 (s. u.) – zwei Bilderfolgen zur Passion (Ebd. 11, S. 96ff.). Für eine 1523 in Antwerpen gedruckte Passion, die innerhalb eines Jahrzehnts zwei Auflagen erzielte, arbeitete Jacob Cornelisz. van Oostsanen um 1520/21 66 Blätter, darunter ein E.; derselbe Meister hatte bereits 1514 eine Große Passion gefertigt, deren E.-Bild eine der wichtigsten Quellen für die Typologie des E. ist (s. u. IV) und die 1651 in der vierten Auflage in Brüssel nachgedruckt wurde (Ebd. 5, S. 2–11). Hervorzuheben sind die Passionsfolgen von H. Goltzius und Marten van Heemskerck; zu der letztgenannten Folge haben sich Vorzeichnungen erhalten (Leon Preibisz, M. v. H., Lpz. 1911, S. 80–103). In Deutschland fanden die Zyklen von Lukas Cranach d. Ä. und H. S. Beham weite Verbreitung (Geisberg, Einblattholzschnitt Nr. 186 u. 550).
Neben den Werken der bedeutenden Meister, die die Bildtraditionen oftmals um neue Motive bereicherten, steht als breite Unterströmung der Entwicklung eine Fülle von Erzeugnissen künstlerisch schwächerer Meister, die an dem älteren Bildgut festhielten und mit ihren schlichten Kompositionen bisweilen auch künstlerisch überlegenen Meistern für einfachere Bilder Anregungen vermittelten.
D. Barock und 19. Jh.
Bei den szenischen E.-Bildern des Barock sind hauptsächlich drei Typen, die sämtlich der aus dem 16. Jh. stammenden Überlieferung folgen, zu unterscheiden. Sie brachten keine grundsätzlich neue Interpretation des Themas, das in dieser Epoche längst nicht mehr die Bedeutung wie im 15. und A. 16. Jh. hatte. Das Bestreben nach andachtsbildmäßiger Verselbständigung der Hauptfiguren führte zu völligem Verzicht auf die Darstellung von zuschauendem Volk: an seine Stelle trat der gläubige Betrachter des Bildes, um die Gewißheit zu empfangen, daß seine Sünden auf Christi Erlösungstod drängen. Bei diesen Denkmälern sind Christus, Pilatus und ein Krieger – dazu gelegentlich einige Statisten im Hintergrund – oft in halber oder dreiviertel Figur hinter einer Brüstung dargestellt; auch darin nehmen sie eine Zwischenstellung zwischen E.-Szenenbild und Christus-Pilatus-Gruppe bzw. E.-Andachtsbild ein. Im Barock traten E.-Darstellungen, bei denen die Zuschauer fehlen, in den architektonischen Zusammenhang der Heiligen Stiege.
Dieser Bildtypus ist einer stattlichen und geschlossenen, über das ganze Abendland hin verbreiteten Denkmälergruppe eigen. Er kommt bereits ausnahmsweise Ende 15. Jh. vor (Psalter aus Kloster Leubus, Breslau, St. u. U. B. I F 439, fol. 54, dat. 1495: Ernst Kloss, Die schlesische Buchmal. des MA, Bln. 1942, S. 203, Abb. 263), später beim Meister der Celtis-Illustration, 1521 (Geisberg, Einblattholzschnitt Nr. 782), bei Romanino (Hannover, Landesgal., Kat. Gert v. d. Osten Nr. 324) u. a. Für die Frühzeit des Barock bezeugen ihn Caravaggio (das von Bellori genannte Gem. verloren, Kopien erhalten im Pal. Communale in Genua und im Mus. Naz. zu Messina: Walter Friedländer, Caravaggio Studies, Princeton 1955, S. 222f., Taf. 66) und Cigoli (Florenz, Pal. Pitti, 1604 dat.: Venturi 9, 7, Abb. 388) für Italien und, vielleicht von dort beeinflußt, Rubens für die Niederlande (Gem. in Schleißheim, um 1612: Oldenbourg S. 50; vgl. auch das Leningrader Bild, das als Besonderheit Christi Hände auf dem Rücken gefesselt zeigt: Ders., P. P. Rubens, Aufsätze hrsg. v. Wilh. v. Bode, Mchn. u. Bln. 1922, S. 105f.; im Gegensinn gestochen von Cornelius Galle; Rooses 2, Taf. 95); als Beispiel aus der deutschen Kunst ist der Stich des Dominicus Custos nach einem Entwurf von Gg. Pecham († 1604) zu nennen (München, St. Graph. Slg., Inv.Nr. 43 400). Die besondere inhaltliche Nuance solcher verdichteter E.-Bilder erläutert eine Beischrift auf einem Stich des Dirk van Hoogstraten († 1640; Hollstein, Dutch Fl. E. 9, S. 133, Nr. 3; s. a. IV). Noch im 1. Dr. 17. Jh. sind gelegentlich Bemühungen zur Anreicherung der Dreifigurengruppe um weitere Nebenfiguren festzustellen: vgl. z. B. den 1612 dat. Stich des Barth. Reiter (München, St. Graph. Sgl., Inv.Nr. 1954: 64) oder die nach 1630 geschaffene Figurengruppe des Stephanusaltars im Dom zu Münster i. W. (Abb. 6). In der Malerei überwog jedoch auch in der Folgezeit das Halb- und Dreiviertelfigurenbild mit Christus, Pilatus und einem Krieger: Regensburg, Neupfarrkirche, bez. 1680 (Inv. Bayern II, 22, 2, S. 206); Salzburg, Franziskanerkloster, Gem. von Joh. Mich. Rottmayr, um 1690 (Ausst. Kat. Salzburger Residenzgal., J. M. R., 1954, Nr. A 7; dort auch die derzeit bekannten Repliken aufgezählt); Radierung v. Jonas Umbach († 1693; Abb. 7). Seltener ist die Aufstellung von (drei) freiplastischen Figuren auf einer Tribüne: Fassade der Scala Santa auf dem Kreuzberg bei Bonn, 1751 (Inv. Rheinprov. 5, 3, S. 235 Abb. 154); Oberberg-Eisenstadt, Kalvarienberg, E.-Kapelle, 18. Jh. (Inv. Österreich 24, S. 105, Abb. 109).
Eine Sonderform, die vielleicht durch Darstellungen der Verspottung Christi und Erbärmdebilder angeregt ist, gestaltete Tintoretto 1566/67 in der Scuola di S. Rocco, Venedig (Erich von der Bercken, Die Gem. des J. T., Mchn. 1942, Nr. 377, Abb. 242; s. a. Nic. Grassis Gem. im Mus. Civico Triest: Gius. Fiocco, Die venezianische Mal. des 17. u. 18. Jh., Florenz u. Mchn. 1929, Taf. 69).
Ein zweiter Bildtypus ist gekennzeichnet durch die frontale Anordnung der auf einer Tribüne in der Bildmitte stehenden Hauptfigurengruppe, zu der eine vor oder seitlich der Tribüne angeordnete Volksmenge emporblickt. Die Entwicklung dieser Bildform läßt sich in den Niederlanden am deutlichsten verfolgen. Es ist bezeichnend, daß die Beispiele dieses Typus den Versuch unternehmen, die Hauptszene stärker zu betonen, als dies um M. 16. Jh. der Fall war.
Man vgl. etwa Hans Rottenhammers Gem. von 1597 (?; Kassel, St. Gem.Gal: Rud. Arth. Peltzer, Jb. Kaiserhaus 33, 1916, S. 302, Abb. 3) mit P. Aertsens E. (Abb. 5). Auch die nur in Stichen von Nic. Lauwers, Bolswert u. a. überlieferte E.-Komposition von Rubens (Rooses 2, Nr. 273), die die gleichzeitige Schaustellung von Christus und Barabbas zeigt, läßt diese Tendenz erkennen, für die die Geschichte von Rembrandts E.-Radierung in besonderem Maße beispielhaft ist: schon der erste Zustand [10, Abb. 145 a] kommt dem Stich von Lucas van Leyden (B. 71) viel näher als dem zeitlich näherstehenden Gemälde des P. Aertsen. Wie bei den ältesten E.-Bildern des 15. Jh. sind Architekturmotive zur Hervorhebung der Hauptfiguren genutzt. Im dritten Zustand [10, Abb. 145 b] ist die vor der Tribüne stehende Volksmenge weggefallen, nur beiderseits des hohen Podiums erscheint das Volk, die Bildmitte bleibt den beherrschenden Hauptfiguren vorbehalten: so ist im letzten Zustand der Radierung eine sehr persönliche Durchdringung von E.-Szene und E.-Andachtsbild erreicht. Die meisten gleichzeitigen und späteren Beispiele verzichten allerdings nicht auf die unterhalb der Tribüne stehenden Figuren: so z. B. die Radierung des Conrad Meyer († 1698) in der Stichfolge von „Des Newen Testaments Unsers Herren Iesu Christi Fornembste Historien und Offenbarungen“ oder das Gem. Christian Winks in Geltolfing Krs. Straubing, Ndb., um 1770/71 (Ad. Feulner, Chr. Wink, München 1912, S. 25 Abb. 10).
Der dritte Typus zeigt die Hauptfiguren auf einem hohen, an eine Seite des Bildes gerückten Podest, während der größte Teil des Bildes (zumal bei den häufigeren Beispielen in Breitformat) figuren- und szenenreicher Darstellung des Volkes vorbehalten ist. Als Beispiele seien die Gemälde Tizians, 1543 (Wien, Kh. Mus.), Tintorettos, 1548–55 (ehem. Slg. Sedelmeyer, E. von der Bercken a.a.O. Nr. 284, Abb. 65), des Paolo Farinati im Mus. del Castello in Verona, Veroneses Zchg. in der Albertina (Kat. Alfr. Stix u. Lili Fröhlich-Bum, 1926, S. 67 Nr. 106), die Gemälde des Frans Francken II. im Wiener Kh. Mus., um 1610 [10, Abb. 144], und des N. Knüpfer († angebl. 1660), ehem. Slg. Naumann in Leipzig, genannt; zumal bei dem letzten Werk ist die Grundlage älterer Bildformen (Hauptfiguren im Dreiviertelprofil) ohne weiteres ersichtlich (ebenso bei Joh. Conr. Seekatz’ Gem. im Hess. L.M. Darmstadt, um 1753: Lud. Bamberger, J. C. S., Heidelberg 1916, S. 65ff. Abb. 6). Auch in der Plastik sind Beispiele anzutreffen: süddt. Elfenbeinrelief des 18. Jh. im Münchner Residenzmus. (Abb. 8).
Im 19. Jahrhundert sind szenische E.-Bilder ziemlich selten. Während in Frankreich das Dreifigurenbild und die Formen des E.-Andachtsbildes bevorzugt wurden (Paul Doncoeur, Le Christ dans l’art français, Paris 1939, Bd. 1 S. 130ff.), hat in Deutschland die Neigung zu zyklischer Schilderung der Passion in höherem Maße das Interesse für die E.-Szene wachgehalten.
Unter den vierzig Kohlezeichnungen zum N.T., die Overbeck zwischen 1843 und 1853 schuf, befand sich auch ein E.-Bild (die Zchgen. 1882 im Schloß Hotzendorf verbrannt, als Kupferstiche 1855 in Düsseldorf erschienen: Frdr. Overbeck. Sein Leben u. Schaffen, hrsg. v. Franz Binder, Freiburg i. Br. 1886, Bd. 2 S. 426f.); eine figurenreiche Darstellung enthält die Folge „Aus der Passion“, die Führich 1868 schuf (Heinr. v. Wörndle, Jos. Ritter v. Führich, Mchn. 1911, S. 29, Abb. 53).
III. E.-Andachtsbild
Neben Bildern der E.-Szene, die den biblischen Bericht in voller Breite nacherzählen, entstanden knappere, abgekürzte Darstellungen des gleichen Bildthemas. Ihre Benennung als E.-Andachtsbilder erscheint durch Form, Inhalt und Verwendung gerechtfertigt: diese Werke wurden fast immer ohne Zusammenhang mit einem Altar aufgestellt (der Bezeichnung „E.-Altar“ oder „E.-Kapelle“ liegt in der Regel der alte verallgemeinernde Sprachgebrauch zugrunde, s. o. 1), waren häufige Themen für Epitaphschmuck und fromme Stiftungen; für die „vereinzelte“ Aufstellung waren sie durch die Beschränkung auf die beiden Hauptfiguren, Christus und Pilatus, bzw. auf Christus allein besonders geeignet. Die Entstehung der E.-Andachtsbilder ist weder formal noch inhaltlich einfach mit der Reduktion szenischer E.-Bilder zu erklären; vielmehr verdanken die meisten Typen des E.-Andachtsbildes ihre Konzeption formaler Anregung von geläufigeren Andachtsbildern aus dem Themenkreis der Passion Christi (s. u.) und empfingen dabei auch inhaltlich eine Bereicherung um Vorstellungen, die mit der E.-Szene nicht unmittelbar verknüpft waren.
Die wichtigsten E.-Andachtsbilder sind das Zweifigurenbild der Christus-Pilatus-Gruppe (a) und das Bild des E.-Christus (b). Während die Darstellungen der Gruppe zu andächtigem Bedenken der Schaustellung auffordern, gilt das Einfigurenbild allein der Vergegenwärtigung Christi in der Summe seiner bis zum Beginn des Kreuzweges erlittenen Schmach.
Eine dritte Denkmälergruppe, das Dreifigurenbild (s. Sp. 689–91), nimmt eine Zwischenstellung zwischen E.-Szene und E.-Andachtsbild ein: mit letzterem teilt es das Fehlen der anklagenden Juden, typengeschichtlich ist es wohl enger mit der E.-Szene verbunden, mag aber auch formale Anregungen von dem Dreifigurenbild der imago pietatis, Erbärmdebild (s. Beweinung Christi, RDK II 468–73), erfahren haben.
a. Christus-Pilatus-Gruppe
Der Passionsbericht bot verschiedene Möglichkeiten zur Bildschöpfung der Christus-Pilatus-Gruppe. Sie wurde zuerst um 970 durch den Miniator des Egbertkodex (Trier, Stadtbibl. cod. 24, fol. 82 v) wahrgenommen: Christus und Pilatus stehen sich im Gespräch gegenüber. Obwohl die Miniatur als Illustration zu Joh. 18, 33–38 anzusehen ist, hat sie der Miniator den Mißhandlungsszenen nachgestellt und dem Bericht von der Schaustellung beigefügt. Erst im 1. V. 15. Jh. findet sich wieder ein Zweifigurenbild, das seine Entstehung wohl der Wortkargheit der Kapitellplastik verdankt: Konsole des sog. Herrenzimmers des ehem. Burgklosters in Lübeck (s.o.). Um 1500 wurde das Zweifigurenbild häufiger.
Für den Typus der Plastik ist die – oft lebensgroße – Darstellung in ganzer Figur kennzeichnend: Pilatus steht seitlich hinter Christus und hebt den Spottmantel empor; beider Blicke sind dem Beschauer, der sich um seiner Sünden willen mit den Anklägern Christi identifizieren soll, zugewandt. Die Gruppe entstand wahrscheinlich durch geringfügige Umbildung der älteren und verbreiteteren Figurengruppe, die Gottvater mit Christus als Schmerzensmann zeigt (s. Gnadenstuhl [Pitié-de-Nostre-Seigneur]; Dag. Frey a.a.O. S. 121); von dieser her würde sich auch das – zumal bei den ältesten Beispielen der Christus-Pilatus-Gruppe häufige – Zusammenbrechen Christi erklären. Die größte Verbreitung fand die Christus-Pilatus-Gruppe in der 1. H. 16. Jh. in Schlesien: zwei Gruppen in St. Bernhardin zu Breslau, je eine in Altstadt b. Namslau, Kunzendorf Krs. Sprottau (Braune und Wiese a.a.O. Taf. 160 u. 162) und an einem Strebepfeiler der Breslauer Elisabethkirche (Abb. 9). Vgl. ferner Dresden, Altertümermuseum Inv. Nr. 725, A. 16. Jh. (Otto Wanckel, Kat. 1895, S. 139 Nr. 516); Antwerpen, Fleischhalle, A. 16. Jh. (Martin Konrad, Meisterwerke der Skulptur in Flandern und Brabant, Bln. 1928, Taf. 55 a); Xanten, St. Victor, 1546 von Arnt van Tricht (Alfr. Kamphausen, Die niederrheinische Plastik im 16. Jh. u. die Bildwerke des Xantener Doms, Düsseldorf 1931, Abb. 54), und, aus späterer Zeit, das Epitaph der Marg. von Stain in Urspring b. Blaubeuren, 1590 von Hans Schaller (Inv. Württ. 4, S. 438 m. Abb.), das Alabasterrelief des L.M. Münster, 17. Jh. (Kat. Burk. Meier Nr. 92), oder das Elfenbeinrelief des B.N.M., um 1760 (Kat. Berliner Nr. 889). Im Barock kommt der ursprüngliche Bildtypus nur noch ausnahmsweise vor. Die in dieser Epoche entstandenen Zweifigurenbilder sind zumeist Werke, die von verschiedenen Vorbildern (E.-Szene, Verspottung Christi) ausgehend zu mehr oder weniger einmaligen Darstellungen kamen. In der Regel wurde der E.-Christus stärker hervorgehoben (Pilatus tritt in den Hintergrund und wird schließlich vielfach durch einen Kriegsknecht ersetzt).
Dasselbe gilt auch für die gemalten Beispiele der Christus-Pilatus-Gruppe im Barock. Das Thema, das in der Malerei des 1. V. 16. Jh. als Halb- oder Dreiviertelfigurenbild aufkam, scheint stets selten geblieben zu sein (Dippoldiswalde, Nikolaikirche, 1. V. 16. Jh., Ed. Flechsig a.a.O. II, Taf. 40; das Gem. des Barthel Bruyn d. Ä. im Mus. f. bild. K. Leipzig gibt vielleicht einen Hinweis auf italienische Vorbilder: Wolfg. Braunfels, Kunstchronik 8, 1955, 225f., Abb. 1). Seiner Bedeutung nach ist es von Anfang an kaum mehr als ein Sonderfall des häufigeren Dreifigurenbildes.
b. E.-Christus
Auch das bis in die Gegenwart beliebte Einfigurenbild, der E. -Christus, scheint erst im 15. Jh. aufzukommen, gleichfalls in halber und ganzer Gestalt. Noch mehr als bei der Christus-Pilatus-Gruppe liegen die Wurzeln außerhalb des szenischen E.-Bildes.
Das Halbfigurenbild deutet auf Entstehung aus dem Bilderkreis des sog. Gregorianischen Schmerzensmannes in seiner vergleichsweise leidlosen, italienischen Form, der imago pietatis, hin. Dort erscheint Christus halbfigurig oberhalb der Grabkufe. Dieses Bild konnte durch das Weglassen der Wundmale, durch Fesselung der gekreuzten Handgelenke, durch Beigabe des Mantels und des Spottzepters leicht in eine Darstellung des E.-Christus umgewandelt werden. Sein Entstehungsvorgang macht die Verwandtschaft zwischen E.-Christus und dem – oft mit ihm verwechselten – Schmerzensmann deutlich.
Die ältesten Beispiele gehören dem 4. V. 15. Jh. an: Konstanz, Münster, Flügel des Altares in der Christophoruskapelle, um 1483?, Inv. Südbaden 1, S. 340, Abb. 302; englisches Alabasterrelief im Mus. zu Lissabon (sehr eng vom Vorbild abhängig, der Sarkophag der imago pietatis in eine Brüstung umgedeutet); niederländ. Holzschnitt, uni 1490 (Schreiber, Hdb. Nr. 875); italien. Holzschnitt (Weltkunst 23, 1953, Nr. 4, S. 10 m. Abb.); Gem. des Jean Hay, 1494 dat., Brüssel, Mus. Roy. (Kat. 1953 S. 61).
Der Herkunft des Typs entsprechend ist das Halbfigurenbild des E.-Christus auch nach 1500 in Italien und Spanien häufiger als im Norden vertreten (Tizian, Morales usw.). Von den seit 2. H. 16. Jh. geschaffenen Beispielen zeigt die Mehrzahl Christus in Dreiviertelfigur, z. B. das Gem. des Dom. Fetti in der A. Pin. München, das durch Darstellung und Inschrift für Graf Zinzendorf und die Brüdergemeine der Herrnhuter bedeutsam wurde (Kat. 1936 S. 55f.). Bei iberischen Werken ist häufig die Halsfessel zu einem wichtigen Motiv ausgebildet. Die Vielzahl der Beispiele gehört der Malerei und der Reliefplastik an; das seltenere Vorkommen in der Vollplastik bezeugt eine Büste (des Thomas Schaidhauf?) in St. Alban bei Diessen, um 1770 (Abb. 11).
Das Ganzfigurenbild des E.-Christus ist seit Ende 15. Jh. nachzuweisen. Es ist wahrscheinlich, daß der damals weit verbreitete Schmerzensmann die Anregung zu seiner Gestaltung gab. Alle frühen Beispiele gehören – bezeichnenderweise – der Plastik an:
Aachen, Suermondt-Mus., um 1500 (Abb. 10; Kat. Herm. Schweitzer Taf. 25); Ecouis (Eure), spätes 15. Jh., und Amiens, Epitaph des P. Burry † 1504 (P. Doncoeur a.a.O. S. 135f.); Gleiwitz, Friedhofskirche (Jb. d. oberschles. Dpfl. 1934, 27, Abb. 14); Passau, Dom, Epitaph des Ludw. von Ebin † 1527 (Inv. Bayern IV, 3, S. 170 Abb. 132); für die Verbreitung des Typs bedeutsam die päpstliche Dublone von Cellini (Emil Schaeffer, Leben des B. Cellini, Ffm. 1924, S. 531, Taf. n. S. 448). – Späterhin etwa: Augsburg, Dom, nach 1630 von Gg. Petel (Karl Feuchtmayr, Kunstchron. u. Kunstmarkt 1923, S. 581, Abb. 3); Großhöflein, Bildsäule von 1668 (Inv. Österreich 24, S. 208, Abb. 237); Dresden, Altertümermus., Mittelfigur des Altars aus der Afrakirche in Meißen, 17. Jh. (E. Flechsig, Hauptwerke usw. Taf. 92); Antwerpen, St. Paul, Epitaph von Ouwen, A. 18. Jh. von Cornelis Struyf (M. Konrad a.a.O. Taf. 55 b).
Auf eine Verbindung zur Engelpietà weisen hin: Brou (Bourg-en-Bresse), Kirchenportal, die Bekrönung eines Sakristeischranks in St. Nicolas in Gent und das Gem. des Dario Varotari, Venedig, Accademia (Venturi Bd. 9, 7, S. 153f. Abb. 90). – Dürers Zchg. W. 606 entstand in unmittelbarem Zusammenhang der Planung mit einer Darstellung des Schmerzensmannes (W. 605). Hier wird schon die Wende zum „zeitlichen“ Andachtsbild E. deutlich, durch die in der neueren Zeit der ganzfigurige E.-Christus im Norden eine gewisse Verbreitung erlangte.
c. Sonderformen
Bei dem Zusammenfließen so verschiedener Bildtypen ist es nur natürlich, daß sich um das E.-Andachtsbild eine größere Zahl von Werken gruppiert, die das E. in Sonderformen behandeln.
So erweiterte Correggio in seinem Londoner Gem. das Thema um die Verehrung der Marien. Die Quelle dieser Erweiterung deutet das Triptychon des Coteta-Meisters im Prov.Mus. Sevilla, 2. H. 15. Jh., an: die Halbfigur des E.-Christus erscheint ohne Pilatus an der ihm bei der dreifigurigen italienischen imago pietatis vorbehaltenen Stelle. – Von der Darstellung des E. könnte das Gem. des Massimo Stanzione in S. Martino in Neapel, 1644, hinüberleiten zu derjenigen der geheimen Leiden Christi. – Zumal die spanische und portugiesische Kunst sind reich an Varianten der E.-Andachtsbilder.
IV. Typologie
Der Bildgeschichte gemäß wurde das E.-Bild erst im 15. Jh. in die Typologie einbezogen. Das älteste Beispiel – zugleich das einzige in einer der großen typologischen Hss. des MA – liefert die London-Münchener Redaktion der Armenbibel (s. RDK I 1081/82); dort sind der E.-Szene zwei a.t. Szenen und vier inschriftlich näher bezeichnete Figurenbüsten zugeordnet, z. B. München, St. B. Cgm. 155, um 1450–70 (Ebd. 1076, Abb. 4): Jonathan wird von abtrünnigen Juden bei König Ptolemäus verklagt (1. Makk. 10, 61f.) und Judas Makkabäus und Nikanor bei König Demetrius angeklagt (2. Makk. 14); während die Szenen auf die verleumderische Anklage Bezug nehmen, kommentieren die Figurenbüsten die Eigenschaften des guten Gerichts, Gleichheit des Urteils (Hiob), Unbestechlichkeit (Jeremias, „der sein oren verstopffet ...“), Warnung vor den Einflüsterungen der „claffer“ und deren Beschämung (David; vgl. das Gem. des C. Bisschop mit dem Standbild der Gerechtigkeit, Oud Holland 65, 1950, 148). Der Gedanke an die Verurteilung Christi steht auch bei den nächstjüngeren Quellen zur Typologie im Vordergrund; erst im 16. Jh. – etwa gleichzeitig mit der Entstehung der E.-Andachtsbilder und wohl von diesen beeinflußt – traten Hinweise auf Schmach und Leid Christi hinzu, die sich aber fast stets auf inschriftliche Anmerkungen beschränkten. Die in der dritten Auflage der Großen Passion des Jacob Cornelisz. van Oostsanen, gegen 1527 (Hollstein, Dutch Fl. E. 5, S. 8ff. Nr. 74), besorgte Ergänzung durch Praefigurationen (hierzu Kurt Steinbart, Das Holzschnittwerk des Jak. Cornelisz von Amsterdam, Burg 1937, S. 108) enthält außer dem Hinweis auf 1. Makk. 10, 61f., Jeremias 12, Ps. 22 und 69 zwei a.t. Szenen: Isebel bedroht Elias mit dem Tode (1. Kön. 19, 2), und Darius befiehlt, Daniel vorzuführen (Dan. 6, 17 [16]; Steinbart a.a.O. S. 56 vermerkt als herkömmliche Bezugstelle Dan. 14, 28, den Bericht von der Überantwortung Daniels an die Babylonier durch König Cyrus [bei Luther apokryph]). Auf die Rechtsprechung bezieht sich eine nicht näher gekennzeichnete Darstellung in einem ovalen Medaillon. – Ob der reiche Skulpturenschmuck des Praetoriums auf Massys’ Gemälde in Madrider Priv.bes., um 151 5 (Friedländer 7, Taf. 16), typologische Bedeutung hat, bleibt zu untersuchen.
Eine notwendige Ergänzung für die bildlich gestalteten Praefigurationen sind die sehr häufigen Inschriften auf E.-Bildern aller Art und die Bezüge, die sich durch Einfügung von E.-Darstellungen in die verschiedensten Illustrationsprogramme aufzeigen lassen; so steht z. B. das E. in einem Augsburger Einblattholzschnitt des Credo, um M. 15. Jh. (Heitz a.a.O. Bd. 99, Nr. 6), als Illustration zu den Worten „passus est sub Pontio Pilato“, usw. (s. a. Hl. Stiege). Anspielungen auf die zeitgenössischen Ereignisse sind in einigen Werken erkannt worden: so etwa in Holbeins Tafel des Dominikaneraltares in Frankfurt, wo ein Barfüßer und ein Geistlicher als Anführer der auf Christi Tod dringenden Juden erscheinen. Es sind der Pfarrer Konr. Hensel und der Mönch Hans Spengler, die als Verfechter des Dogmas von der Unbefleckten Empfängnis Anstoß erregt hatten ([9] S. 30f.; vgl. auch Dominikaner, Sp. 138). Tizian hat Pilatus mit den Zügen Aretinos dargestellt (W. Braunfels a.a.O. S. 225).
Zu den Abbildungen
1. Bremen, St.B. Ms. 21, fol. 53 v. Perikopenbuch Heinrichs III. Echternach, 2. V. 11. Jh. Fot. Bildarchiv Rhein.Mus. Köln.
2. Hannover, Landesgal., Inv. Nr. WM XXIII, 27, linker Außenflügel vom ehem. Hochaltar der Michaeliskirche in Lüneburg (sog. Goldene Tafel), Ausschnitt von der Innenseite. Um 1420 vom Meister der Goldenen Tafel. Fot. Mus.
3. Friedrich Herlin, Epitaph des Hans Genger. Gem. auf Holz, 172 × 114 cm. Nördlingen, Reichsstadtmuseum. Dat. 1468. Fot. Bayer. L.A. f. Dpfl., München.
4. Altmühldorf, Obb., Pfarrkirche, Innenseite des rechten Altarflügels, oberer Teil. Gem. auf Holz, 128,5 (88,8) × 56,3 cm. 1511 vom Meister von Mühldorf. Fot. Bayer. St. Gem. Slgn., München.
5. Pieter Aertsen, Ecce homo. Gem., 115 × 150 cm. Ehem. London, Kunsthandel. Um 1550. Nach Friedländer Bd. 13, Taf. 60, Nr. 310.
6. Gerhard Gröninger, Mittelteil des Stephanusaltars (Epitaphaltar des Domdechanten H. v. Letmathe, † 1625). Sandstein, farbig gefaßt. Münster i. W., Dom. Um 1630. Fot. Landesdenkmalamt Westfalen, Münster.
7. Jonas Umbach († 1693), Radierung. München, St. Graph. Slg. Inv. Nr. 17 250. 10,1 × 7,4 cm. 3. Dr. 17. Jh. Fot. St. Graph. Slg., München.
8. München, Residenzmus., Elfenbeinrelief. 12,8 × 20,9 cm. München, um 1700. Fot. Bayer. Schlösserverw., Nymphenburg.
9. Breslau, Christus-Pilatus-Gruppe mit zugehörigem Stifterrelief. Sandstein, 180 cm h., Relief 42 × 117 cm. Anf. 16. Jh. Fot. Staatl. Bildstelle.
10. Aachen, Suermondtmus., E.-Christus aus einer Aachener Kirche. Holz mit Resten farbiger Fassung, 169 cm h. Um 1500. Fot. Marburg 5006.
11. Thomas Schaidhauf (?; 1735–1807), Büste eines E.-Christus. Holz, farbig gefaßt, ca. 70 cm h. St. Alban b. Diessen, Obb. Um 1770. Fot. Karl-August Wirth, München.
Literatur
1. Wilpert, Mos. u. Mal. Bd. 2, S. 873f. – 2. Cabrol-Leclercq 4, 2, 1713–15. – 3. Wilh. Neuß, Die katalanische Bibelillustration um die Wende des ersten Jahrtausends und die spanische Buchmal., Bonn u. Lpz. 1922, S. 125. – 4. Künstle I 437–40. – 5. Clemen, Got. Mon.Mal. – 6. Buchberger 3, 520 (Karl Künstle). – 7. K. Smits, De ikonografie van de Nederlandsche primitieven, Amsterdam, Brüssel, Antwerpen u. Löwen 1933. – 8. Gert von der Osten, Der Schmerzensmann (= Forsch. z. dt. Kg. 7), Bln. 1935, S. 139 (Reg.). – 9. Peter Strieder, Das Volk auf dt. Tafelbildern des ausgehenden MA, München 1939. – 10. Knipping 2, S. 205–7. – 11. Elisabeth Schürer-von Witzleben, Der dt. Passionsaltar, Diss. Mchn. 1953 (masch.). – 12. Hanns Swarzenski, An Unknown Bosch, Bull. of the Mus. of Fine Arts (Boston) 53, 1955, Nr. 291, S. 1–10.
Verweise
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