Dornenkronenreliquiar
englisch: Reliquary for pieces of the Crown of thorns; französisch: Couronne-reliquaire de la Ste. Épine; italienisch: Reliquiario della Corona di spine.
Karl-August Wirth (1955)
RDK IV, 312–315
I. Begriff, Geschichte
Reliquienbehältnisse für die Dornenkrone Christi (bzw. deren Partikel, zumeist Dornen) in Form einer Krone gehören zu denjenigenReliquiaren, die durch ihre formale Beschaffenheit auf ihren Reliquieninhalt hinweisen (sog. redende Reliquiare).
D. kommen nur im Abendland vor. Die erhaltenen Beispiele stammen sämtlich aus dem 13. Jh. und machen zahlenmäßig nur einen kleinen Teil der ehemals vorhandenen aus (s. II b). Soweit die Überlieferung der verlorenen D. über deren Entstehungszeit Auskunft gibt, stammten auch diese aus dem 13. Jh.
Voraussetzungen für die Gestaltung von D. waren die seit ottonischer Zeit verbreitete Auffassung der Dornenkrone Christi als Siegeskrone, ferner reliquiengeschichtliche Bedingungen (vgl. Sp. 300f.). Beides traf um 1200 zusammen und führte zur Entstehung von D. Im späteren MA, als die Dornenkrone nicht mehr als Siegeskrone, sondern ausschließlich als Marterwerkzeug angesehen wurde, und als es üblich wurde, die Reliquien den Gläubigen sichtbar vorzuweisen, verschwanden die D. An ihre Stelle traten die für Spät-MA und Barock durch eine Fülle erhaltener Werke im gesamten Abendland bezeugten (Spina-)Ostensorien.
II. Denkmäler
a) Das älteste D. hat sich in Namur erhalten (Abb.); es wurde als Behältnis für die 1207 von dem byzantinischen Kaiser, dem flandrischen Grafen Heinrich, der Kathedrale geschenkten Reliquienpartikel angefertigt und ist in deren Inventar von 1218 bereits genannt. Das D. hat die Form eines Kronreifs, der aus acht durch Scharniere miteinander verbundenen Gliedern besteht; deren jedes besitzt eine lilienförmige Bekrönung, die ebenso wie die rechteckigen Glieder mit Edelsteinen und Filigran verziert ist. Die Reliquien sind in 2 Kapseln verwahrt, die in der Mitte von zwei Gliedern angebracht wurden. – Das im Familienbesitz des Hauses Wettin befindliche D. [1, S. 451, Abb. 525] stammt aus der 2. H. 13. Jh.; es besitzt ebenfalls einen achteckigen Kronreifen; statt der Scharniere finden sich hier kleine Zwischenglieder mit je einer Engelsfigur, die ein Spruchband vorweist, auf dem der unter Kristallen verwahrte Reliquieninhalt des D. verzeichnet ist. – Aus dem Paracletkloster gelangte ein D. in den Kathedralschatz zu Amiens. Aus runden mit Edelsteinen geschmückten Kronreifen wachsen alternierend sechs große und sechs kleine Lilien hervor [2, S. 208]. – Bereits im 2. Dr. 13. Jh. bahnte sich der später auf breiter Front vollzogene Übergang vom D. zum Ostensorium an: bei dem D. der Ste. Chapelle in Paris (in Nachzeichnung überliefert, vgl. Les heures d’Anne de Bretagne, Paris o. J., Taf. 58) war die Reliquie nicht mehr in einer Kapsel beschlossen, die der Krone hinzugefügt wurde, sondern lag in einem Behältnis, dessen Form einer Krone angeglichen war: der sehr hohe Kronreifen (= Wand des runden Behältnisses) gab durch Dreipaßarkaden den Blick auf die Reliquie frei; zwischen den Öffnungen standen Statuetten unter Baldachinen. Das kronenförmige Behältnis ruhte auf einem Ständer, der die Form eines Kelchfußes hatte. Für die von König Ludwig d. Hl. an die Abtei St. Moritz, Kt. Wallis, geschenkte Dornenkronenreliquie wurde noch im 13. Jh. eine Reliquienmonstranz angefertigt (Edouard Aubert, Trésor de l’Abbaye de St. Maurice d’Agaune, Paris 1872, S. 170, Taf. 33).
b) Die meist aus kostbarem Material geschaffenen D. waren dem Zugriff späterer Zeit in besonderem Maße ausgesetzt. Möglicherweise hatte das D. in Namur einen wenig älteren Vorgänger:
Durch die Einträge in einem aus Kloster Andechs stammenden Missale in der Bayer. Staatsbibl. München (Clm. 3005; Romuald Bauerreiß, Die gesch. Einträge des „Andechser Missale“, Stud. u. Mitt. z. Gesch. d. Benediktinerordens N. F. 16, 1929, Stück 20) erfahren wir von der Schenkung einer Reliquienpartikel der Dornenkrone für einen Kruzifixus in Andechs durch die von ihrem Gemahl, dem französischen König Philippe Auguste, verstoßene Gräfin Agnes († 1201). Das Holzbildwerk des 4. V. 12. Jh. hat sich in Forstenried bei München erhalten; es besaß zwar keine Vorrichtung zur Aufnahme von Reliquien (Harald Keller in Fs. für Hans Jantzen, Berlin 1951, S. 86), jedoch eine Krone. Über deren Form geben alte Kopien (Herm. Beenken, Das Kruzifix in Forstenried, Cicerone 1923, S. 938ff. – Ed. Syndicus, Romanische Kruzifixe in Süddeutschland, Diss. München 1954 [masch.], S. 158) und Abbildungen (z. B. Spamer, Andachtsbild Taf. 43, 1) Auskunft: die Krone unterschied sich von der sonst bei spätromanischen Holzbildwerken üblichen Palmettenkrone (s. Sp. 301) und zeigte mit den D. der Goldschmiedekunst auffallende Übereinstimmung. Nach dem gemalten Brüstungsrelief in der Kreuzkirche bei Schloß Thaur in Tirol, wo der Geschichte des Forstenrieder Gnadenbildes fünf Darstellungen gewidmet sind, wäre der Holzkruzifixus 1204 mit einer goldenen und mit Edelsteinen besetzten Krone geschmückt worden. Es ist anzunehmen, daß die später in einem Ostensorium beigesetzte Reliquie ursprünglich in der Krone, die den Forstenrieder Gekreuzigten schmückte, aufbewahrt wurde.
Spät-ma. Inventare bezeugen das ehem. Vorhandensein von D. in den Kathedralen zu Paris, Cambrai und Lund, ferner in Boulogne-sur-Mer, St. Denis, in der Trinitarierkirche und der Ste. Chapelle zu Paris u. a. [1].
Die Aufbewahrung von D. erfolgte auf verschiedene Weise: sowohl in der Ste. Chapelle als auch in der Trinitarierkirche in Paris waren eigene Ständer für D. angefertigt worden; das D. in der Schloßkapelle des Grafen von Flandern, Robert von Béthune, wurde von einem Engel getragen. Das Inventar der Kathedrale von Cambrai aus dem Jahr 1359 berichtet über die Aufbewahrung des D.: „In medio corona est crux argentea deaurata ad pendendum vel tenendum dictam coronam“ (nach [1]). Die für den Forstenrieder Gekreuzigten erschlossene Anordnung eines D. ist im 15. Jh. für eine (1277 aus dem hl. Land überbrachte) Dornenkronenreliquie im Kloster St. Apern in Köln bezeugt: sie krönte das Haupt des Gekreuzigten am 1464 erbauten Hl. Grabe (Inv. Rheinprovinz 6, 4, S. 160).
Zur Abbildung
Namur, Kathedrale, Dornenkronenreliquiar. Gold, Filigran, Perlen und Edelsteine. Dm. 21 cm, H. 8,5 cm. Maasgebiet zw. 1207 und 1218. Fot. und Copyright ACL, Brüssel, Nr. 11 307.
Literatur
1. Braun, Reliquiare, S. 450f. – 2. Henry Havard, Histoire de l’orfèvrerie français, Paris 1896, S. 206ff.
Verweise
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