Dädalus und Ikarus

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englisch: Daedalus and Icarus; französisch: Dédale et Icare; italienisch: Dedalo e Icaro.


Margarete Bessau (1953)

RDK III, 976–981


RDK III, 977, Abb. 1. Lyon, 14. Jh.
RDK III, 979, Abb. 2. Virgil Solis nach Bernard Salomon, 1563.
RDK III, 979, Abb. 3. Virgil Solis nach Bernard Salomon, 1563.
RDK III, 979, Abb. 4. Jost Amman, um 1570-8o.

I. = Ikarus.

I. Quellen und antike Darstellungen

Die griechische Sage, die das Schicksal des D. und seines Sohnes I. in drei stammesmäßig gebundenen Versionen erzählt, kennt D. als den kunstreichen Baumeister, der das Labyrinth am Hofe des kretischen Königs Minos erfand, und als den Erfinder der Bildhauerkunst, später als den Urheber des Kunsthandwerks schlechthin. Ovid (Metam. VIII, 159–168, 183–259) erwähnt einmal den Bau des Labyrinths und erzählt folgende Geschichte: D. ist der Gefangenschaft auf Kreta überdrüssig; da er keine andere Möglichkeit sieht, über das Meer zu entkommen, fertigt er für sich und den Sohn Flügel, indem er die Federn der Vögel mit Wachs zusammenklebt, und entfliegt mit I. Trotz der Warnung des Vaters kommt I. der Sonne zu nahe, das Wachs schmilzt und er stürzt ins Meer. Während D. den Sohn begräbt, fliegt ein Rebhuhn auf, der verwandelte Neffe (Perdix) des D., den dieser einst aus Neid über die Erfindung von Zirkel und Säge erschlagen hatte.

In der Antike werden D. u. I. auf Vasen, Gemmen und an Geräten dargestellt, zeitweilig einzeln, meistens aber zusammen, D. dem Sohn die Flügel anheftend (Vasenbilder s. J. D. Beazley, Icarus, Journal of Hellenic Studies, 1927, S. 222ff.; Gemmen s. Ad. Furtwängler, Antike Gemmen, Leipzig-Berlin 1900, Taf. 28, 37, 42, 63).

II. Mittelalter

Im MA geht der Ruhm von der Kunstfertigkeit des D. nicht verloren. Verschiedentlich wird D. in den Quellen genannt, und das Eigenschaftswort „dädalisch“ bedeutet kunstreich, kunstfertig, erfinderisch.

Beispiele: Im Chronicon Venetum des Joh. Diaconus, A. 11. Jh., wird p. 169 berichtet, daß der Doge Petrus II. eine Kapelle „dedalico instrumento“ erbauen ließ (O. Lehmann-Brockhaus, Schriftquellen z. Kg. d. 11. u. 12. Jh., Berlin 1938, Nr. 2467). In den Dialogi Laurentii Dunelmensis (von Dunham), 12. Jh., rühmt der Verfasser die Vorzüge des Klosters Waltham in England: „Has si conspiceret, puto Daedalus ipse stuperet, artificisque manum disceret artis inops“. Die Vita s. Swithuni des Mönchs Wolstan von Winchester, E. 10. Jh., berichtet zur Kathedrale von Winchester: „Insuper occultas studuistis et addere cryptas, quas sic Daedaleum struxerat ingenium“; hierin ein versteckter Hinweis auf das Labyrinth (O. Lehmann-Brockhaus, Englische Schriftquellen, Nr. 4688 und 4694 [in Vorbereitung]). Um 1200 wird D. in der Beischrift zu einer Darstellung des Labyrinths an der Vorhalle des Doms von Lucca genannt (Sauer, S. 350). Und noch auf Holbeins Titelblatt zu Erasmus’ Werken, um 1530, wird der Ausdruck gebraucht (Dehio, Dt. K. III2, Abb. 196).

Darstellungen von D. u. I. sind im MA selten. An der Südseite des Campanile in Florenz finden wir sie einmal in einem allegorischen Zyklus der Erfindung von Handwerken und Künsten. D. ist hier allein, ganz mit Federn bekleidet und ausgebreiteten Schwingen fliegend dargestellt. Eine schöne Darstellung enthält der Ovide moralisé der Bibl. de la ville in Lyon, französisch 14. Jh. (Abb. 1); auch die anderen Hss. des Ovide moralisé enthalten z.T. die Szene.

III. Neuzeit

Zu Beginn der Neuzeit findet sich eine antikisierende Darstellung des Themas bei den Marmortondi des Donatello im Hof des Pal. Riccardi in Florenz, um 1460: I., auf einer hohen Basis stehend, nimmt von D. Abschied; ihnen beigegeben sind zwei Frauenfiguren, deren Bedeutung umstritten ist (Ernst Kris, Meister und Meisterwerke der Steinschneidekunst in der italien. Renaissance, Wien 1929, II Abb. 18). H. Kauffmann schreibt den Tondi allegorische Bedeutung zu (Donatello, Bln. 1936, S. 172–76). Den angeblich antiken Onyxkameo in Neapel, der Donatello als Vorbild gedient haben soll, überführte Curtius (Falsche Kameen, Jahrb. d. Dt. Arch. Inst. 1944/45 [ersch. 1949], Archäol. Anz. Sp. 1ff.) als Renaissancefälschung. Rein illustrativ ist der Holzschnitt im „Spiegel der wahren Rhetoric“ zu der moralischen Ermahnung „... nit zehoch noch zenider“ zu fliegen.

Holbein stellte (1536–43) I. als fallenden Himmelsstürmer in einer kleinen runden aquarellierten Federzeichnung dar, in der I., dem Gespann des Phoebus zu nahe gekommen, ins Meer stürzt.

In der 2. H. 16. Jh. werden die Darstellungen des Themas häufiger und verlieren ihre allegorische Bedeutung völlig. Pieter Brueghel benutzt die mythologische Szene zu großartigen Landschaftsbildern, läßt die Hauptpersonen ganz oder fast ganz verschwinden, schildert dafür eingehend die bei Ovid genannten Nebenfiguren, den Fischer beim Angeln, den Hirten mit seiner Herde und den Bauern am Pflug (Tafelbild in Brüssel; Kupferstich Bastelaer Nr. 101; Zeichnung nach Brueghel, Bastelaer Nr. 1). Mit Brueghels „kosmozentrischer“ Einstellung zu dem mythologischen Thema setzt sich K. v. Tolnai eingehend auseinander (Jb. d. kh. Slg. Wien, N.F. 8, 1934, 110): „... Das einmalige Ereignis des Ikarussturzes wird durch eine den Sinn des Mythos viel allgemeiner fassende Volksweisheit ins Universale gewandt, wie zugleich seines heroischen Charakters entkleidet, der prosaischen Natürlichkeit des Alltagslebens angepaßt.“ Verwandte Darstellungen schufen Hans Bol (Zeichnung in Hamburg Kunsthalle; Tolnai a. a. O. Abb. 60) und Paul Bril (Ölbild im Boymans-Mus., Rotterdam). In den Ovidillustrationen des Bernard Salomon, Lyon 1557, die Virgil Solis übernahm (1. Ausg. Frankfurt 1563; Abb. 2 und 3), erscheinen zwei D.-Szenen. Auf Bl. 95 schwebt D. über einer Meerlandschaft, neben ihm stürzt I. unter der strahlenden Sonne herab; ein Turm auf einem Felseiland deutet die Gefangenschaft auf Kreta an. Auf Bl. 96 ist die selten dargestellte Szene, da D. den jugendlichen Perdix von der Burg herabstürzt; die Göttin eilt von links heran, um den Fallenden aufzufangen und als Rebhuhn verwandelt entweichen zu lassen. Diese Szene erscheint in ähnlicher Form im 18. Jh. auf einer französischen Elfenbeindose in Braunschweig (Kat. Scherer Nr. 428), auch in Zusammenstellung mit dem I.-Sturz. Im 17. Jh. treten die Landschaften mit D. und I. zurück hinter Bildern, die die Figuren in den Vordergrund rücken. Goltzius gibt in den vier Stichen der Himmelstürmer als erster den Sturz des I. so, daß der stürzende Akt dominiert, die Landschaft mit dem fliegenden D. nur eine untergeordnete Rolle spielt. Ähnlich ist eine Federzeichnung Jost Ammans in der St. Graph. Slg. in München (Abb. 4). Als Vertreter des Elementes Luft stellt Georg Strauch 1664 D. über einer Landschaft fliegend auf einer von 4 Schmelzplatten, die einen Zyklus der 4 Elemente bilden, dar (H. Mahn, L. u. G. Strauch, Reutlingen 1927, Abb. 94). Rubens’ Zeichnung in Brüssel, für ein Gemälde des Schlosses Torre della Parada in Madrid, überläßt den Figuren ¾ der Bildfläche als Aktionsraum, die Landschaft wird am unteren Bildrand nur flüchtig angedeutet. Eine neue Darstellungsmöglichkeit kommt mit van Dyck auf, die sich der antiken Gemmendarstellung wieder mehr nähert, indem sie D. u. I. als Einzelfiguren ohne landschaftliche Zutaten darstellt, I. in den Vordergrund rückt, während D. hinter ihn zurücktretend ihm die Flügel anheftet. Van Dycks Tafelbild aus seiner Frühzeit (Toronto, Art Gallery; ehem. Slg. Spencer) nehmen Quellinus Erasmus d. J. (A. Feulner, Kat. Nymphenburg, Abb. 26) und J. v. Boeckhorst (Schleißheim, Nr. 30/428) zum Vorbild. Im 18. Jh. werden die Darstellungen wieder seltener und verlieren an Bedeutung. Eine Radierung Giovanni Davids gehört in die Reihe der Ovidillustrationen. D. heftet, auf einem Sessel sitzend, dem vor ihm stehenden Sohn die Flügel an, um sie herum liegen gerupfte Vögel, die zusammen mit dem Wachstopf die Arbeitsmethode des D. schildern. 1779 schuf Antonio Canova eine Marmorgruppe D. u. I. (Venedig, Mus. Correr). Ein Tafelbild Wilh. Böttmers, 1786, in Kassel (R. Hamann, Die dt. Malerei v. Rokoko b. z. Expressionismus, Berlin-Leipzig 1925, S. 74) bildet das unerfreuliche Ende der Reihe, ein Ganzfigurenbild – darin antiken Darstellungen am nächsten kommend –, aber eine der „mythologischen Szenen, in denen wenige Menschen in einer tragischen Situation gefühlvoll zusammengeführt werden“ (Hamann, a. a. O., S. 72).

Zu den Abbildungen

1. Lyon, Bibl. de la ville, Ms. 742, Ovide moralisé. Fol. 138 r: Dädalus und der Sturz des Ikarus. Französisch 14. Jh. Photo frdl. zur Verf. gestellt vom Warburg Institute, London.

2. und 3. Virgil Solis nach Bernard Salomon, Holzschnitt aus Ovids Metamorphosen, Frankfurt a. M. bei Sigm. Feyerabend 1563. (Abb. 2: Dädalus und Ikarus; Abb. 3; Dädalus und Perdix). Phot. St. Graph. Slg. München.

4. Jost Amman, Sturz des Ikarus. Federzeichnung, 13,6 × 16,6 cm. München, St. Graph. Slg., Inv. Nr. 31 832. Um 1570–80. Phot. Graph. Slg.

Literatur

1. Roscher I, 1, 934–37; II, 1, 114–16. – 2. Pauly-Wissowa IV, 1994–2006; IX, 985–89. – 3. Encicl. Ital. XII, 474f.; XVIII, 695.

Verweise