Cherub
englisch: Cherub; französisch: Chérubin; italienisch: Cherubo, cherubino.
Arno Schönberger (1952)
RDK III, 428–433
C., Plural Cherubim, ist die oberste Rangstufe der Engel. Das hebräische Wort ist der Bedeutung und sprachlichen Herkunft nach mit der assyr.-babyl. Bezeichnung für Vermittler-Gottheiten ilu karibu und ilu kuribu, wie auch mit dem assyrischen karubu (= Priesterfürst) verwandt. Im A.T. erscheinen die C. als Ehrengeleit und Diener Gottes und als Wächter an heiligen Orten (zuerst 1. Mos. 3, 24).
Das A.T. berichtet von bildlichen Darstellungen an der Bundeslade, wo 2 C. wahrscheinlich in menschlicher Gestalt einander zugewandt mit ihren Flügeln die Lade überschatteten, sowie im Heiligtum des Tempels. Bestimmend für die C.-Vorstellung waren die Visionen Ezechiels (1, 4–25; 10, 1–22) und die Beschreibung in der Apokalypse (4, 6–11). Nach Ezechiel haben die C. vier Köpfe (vorn Mensch, rechts Löwe, links Stier, oben Adler), vier Flügel, von denen zwei ausgebreitet sind und zwei den Leib bedecken, gerade Füße mit Rinderhufen und Menschenhände, die zwischen den Flügeln ausgestreckt sind. Am Boden neben den Wesen befindet sich ein Rad, das von einem anderen durchschnitten wird. Leib, Hände, Flügel und Felgen der Räder sind mit Augen bedeckt. Nach der Apokalypse hat jedes der Wesen nur einen Kopf und sechs Flügel.
In den abendländischen, besonders aber in den orientalischen Riten erscheinen die C. zusammen mit den Seraphim an liturgisch bedeutsamer Stelle: in der byzantinischen Meßliturgie im Cherubikon, dem Trisagion-Gesang, der die große Offertorialprozession begleitet; in der römischen Liturgie in der Präfation.
Zwei Typen von C. kommen in der christlichen Kunst zur Darstellung: Der Tetramorph in Anlehnung an die Visionen Ezechiels und beeinflußt durch die Vorstellung der Apokalypse; der Cherubengel in Angleichung an die übliche Engelsvorstellung.
1. Der Tetramorph
Seine ersten Darstellungen begegnen uns in der syrischen und byzantinischen Kunst. Im Evangeliar des Rabula (vor 586) ruht die Mandorla des zum Himmel auffahrenden Christus auf einem Wesen mit vier Köpfen und vier mit Augen bedeckten Flügeln. Seitlich befinden sich je zwei einander durchschneidende Räder. Dieses Wesen wird gedeutet als eine Wiedergabe des Ezechielschen Wagens, in dem man ein Symbol der Kirche sieht. (Vgl. Ephräm d. Syrer nach der von Severus von Edessa 851–861 verfertigten Katene und Homilie des Mar-Jakob von Sarug 451–521. – S. Ephraemi Syri opera omnia cur. J. J. Assemani et P. Benediktus, pars I, t. II, Rom 1740, S. 165–202; P. Bedjan C.M.L., Homiliae selectae Mar-Jakobi Sarugensis, Paris und Leipzig 1905ff. [Horn. CXXV, torn. IV, 1908, S. 543ff.]).
Ebenfalls auf eine alte syrische Vorlage gehen die bei Kosmas Indikopleustes abgebildeten Tetramorphe mit vier Flügeln und vier Köpfen zurück, die hier der Bundeslade beigegeben sind. Eine bereits reduzierte Form stellen die Tetramorphe der Ziboriumsäulen von San Marco in Venedig dar mit vier Flügeln und nur zwei Köpfen. Sechs Flügel haben diejenigen des Apsidialfreskos von S. Maria Antiqua in Rom aus der Zeit des Papstes Paul I. (757–767), für die ebenso wie auch bei Kosmas Indikopleustes ältere Vorbilder anzunehmen sind. Die Beigabe von sechs Flügeln zeigt eine Beeinflussung durch die Seraphvorstellung (Jes. 6, 2–7). Die häufige Erwähnung der C. in der Liturgie vor allem der byzantinischen Riten, die wohl den Anstoß zu ihrer Darstellung in der Kunst des christlichen Ostens gab, mag durch die übliche gleichzeitige Erwähnung der C. mit den Seraphim Ursache der Vermengung der Attribute gewesen sein. Schon bei Cyrillus von Jerusalem (315–386; Migne P.G. 33, S. 640f.) und in den apostolischen Konstitutionen (VII cap. 35, 3; um 400; F. X. v. Funk, Didascalia et constitutiones apostolorum I, Paderborn 1905) haben die C. die sechs Flügel der Seraphim.
Schließlich begegnet uns der Tetramorph in der byzantinischen Kunst auch in der Funktion des reinen Cherubengels als Paradieseswächter (z. B. Pariser Hs. des Gregor von Nazianz um 880 bis 886, Bibl. nat. gr. 510).
In der abendländischen Kunst findet sich die erste Tetramorphdarstellung auf der Miniatur zum Kanon des Drogo-Sakramentars, vor 855 (Abb. 1). Abweichend von der byz. Kunst trägt hier der Tetramorph ein langes Gewand. Das mittlere Paar der sechs Flügel und die Arme sind ausgebreitet. Die Füße aller vier Wesen sind wiedergegeben, was auf ein syrisches Vorbild weisen kann. Bedeutsam ist das Auftreten des Tetramorph an liturgisch wichtiger Stelle.
Im 10. und 11. Jh. begegnet der Tetramorph in der katalanischen Bibelillustration. Die Bibel von Rosas (10. Jh.) zeigt die drei Tierköpfe nebeneinander über dem gekreuzten oberen Flügelpaar. In der Bibel von Farfa (11. Jh.) sind die vier Wesen in ihr Rad eingeschlossen.
Ein sechsflügeliger Tetramorph auf einem kugeligen Rad ist auf dem Titelblatt zum Johannesevangelium der Bibel von Floreffe (RDK II 489/90 Abb. 6) dargestellt. Er hat neben sich noch ein Doppelrad (kleines Rad in einem größeren), eine Form, die in der byz. Kunst nicht begegnet.
Die Gleichsetzung des Ezechielschen Tetramorph mit den vier Wesen der Apokalypse führt zu Darstellungen von sechsflügeligen Wesen, die jeweils nur einen der vier Köpfe haben, wie z. B. in der Bibel des Manerius (Paris B.N. lat. 11 534), wo sie um ein stilisiertes Rad angeordnet sind. Vier Flügel, das Rad und den Nimbus, der sie als Evangelistensymbole kennzeichnet, haben sie in der zur Salzburger Schule gehörenden Gebhardsbibel der Abtei Admont, ebenso in der gleichfalls Salzburgischen Gumpertsbibel in Erlangen, wo sie in den Händen noch eine Rolle (?) und ein Flabellum halten. Man kann diese Sonderformen der C.-Darstellung, die wohl auch der byz. Kunst bekannt waren, als Evangelisten-C. bezeichnen.
Von der Gestalt des Tetramorph abzuleiten ist auch das vierköpfige Tier, auf dem im Hortus deliciarum die Ecclesia reitet, und das sich ähnlich auf einem Glasgemälde des Freiburger Doms und als Bildwerk am Dom zu Worms findet. Hier soll die Einheit in der Vierzahl ausgedrückt werden.
Schließlich sah man im Tetramorph nicht nur ein Symbol der Kirche (s. Rabula-Evangeliar), sondern auch Christi selbst, eine Vorstellung, die von Gregor dem Großen (I. Homilie IV, 1; Migne P.L. 76) bis zu Rupert von Deutz (De trinitate et operibus eius I cap. 4; Migne P.L. 167) geht. So wird in der Bibel von Lobbes (Hennegau 1084) der vierflügelige Tetramorph, dessen Köpfe von einem Nimbus umschlossen sind, durch den daneben abgebildeten Propheten zum Objekt visionärer Schau. In der gleichen Miniatur erscheinen die vier Köpfe nochmals in einem Doppelrade, durch die Speichen getrennt, wohl als Symbol der Heiligen Schrift. Ähnlich ist auch der Tetramorph in der Bibel von Winchester, nur daß hier die vier Köpfe einzeln nimbiert sind, der Tetramorph auf einem Löwen steht und sich neben ihm vier einander überschneidende Räder befinden. Bei Darstellungen dieser Art kann man von einem Christus-Tetramorph sprechen.
2. Der Cherubengel
Wohl gleichzeitig mit dem Tetramorph war auch der C. ausgebildet. In der Wiener Genesis wird noch als Wächter der Paradiesespforte ein einfacher Engel durch ein beigegebenes Rad als C. gekennzeichnet. Bei Kosmas Indikopleustes, der ja auf eine wesentlich ältere Vorlage zurückgreift, sind vier C. mit je sechs Flügeln auf einem Rade stehend abgebildet. Da in derselben Handschrift bei der Bundeslade Tetramorphe schweben (s. o.), kann man den C. mit Menschengesicht nicht als die reduzierte Form eines Tetramorph erklären. Er muß sich neben diesem selbständig entwickelt haben. Die sechs Flügel zeigen wieder eine Beeinflussung durch die Seraphvorstellung. Das byz. C.-Bild zeigen in schönster Ausprägung die italo-byzantinischen Mosaiken des Domes von Monreale (E. 12. Jh.), wo der nimbierte C. mit sechs mit Augen bedeckten Flügeln auf zwei geflügelten Rädern steht.
In der abendländischen Kunst begegnen uns die ersten C. auf der Vorderseite des Altares von S. Martino in Cividale. Doch gilt für das ganze Abendland noch mehr als für den Osten, daß C. und Seraphim nicht deutlich voneinander unterschieden werden. So erlauben z. B. die beiden sechsflügeligen Engel auf der Tutilotafel keine einwandfreie Deutung als C. Sie sind sehr ähnlich den Seraphim auf der Miniatur der Jesaias-Vision der Bibel von St. Paul, während sie in gleicher Gestalt auf dem Rambona-Diptychon (Vatik. Bibl.) durch ein stilisiertes Rad als C. gekennzeichnet sind. Als Beispiel für die Verwischung der Unterschiede beider Engelklassen mögen zwei voll ausgebildete Tetramorphe auf zwei Emailplatten von Godefroid de Claire dienen, von denen der eine die Beischrift Seraphim hat. Die abendländische Kunst legte ja auch auf die Unterscheidung der übrigen Engelsklassen wenig Wert. Mit einiger Sicherheit – wenn auch hier Ausnahmen bestehen – kann man aber im allgemeinen einen C. doch an dem beigefügten Rad oder Doppelrad erkennen, wie z. B. in den Engeln mit vier Flügeln ohne Augen auf dem Querbalken des Domes zu Halberstadt und auf dem Deckengemälde im südlichen Kreuzarm des Braunschweiger Domes. Einer der schönsten C. der abendländischen Kunst, durch das Rad und die Beischrift gekennzeichnet, ist uns aus der Zeit um 1180 in einem Email des Maurinusschreines in Köln erhalten (Abb. 2).
Im 14. Jh. kommen dann in Italien Engelsköpfchen auf, die von vier oder sechs Flügeln umgeben sind. Auch hier ist nicht mehr zu unterscheiden, ob C. oder Seraphim gemeint sind. Sie sind über die Renaissance (z. B. Perugino) bis in das Rokoko hinein beliebt, wo man sie auch, oft nur mit drei Flügeln, häufig als Tabernakelengel gestaltet.
Zu den Abbildungen
1. Paris, Bibl. nat. lat. 9428, Drogosakramentar aus dem Metzer Dom, fol. 15 r. Lothringisch, zw. 844 u. 855. Nach [2].
2. Köln, St. Pantaleon, Eckplatte vom Maurinusschrein. Kölner Grubenschmelzarbeit, Grund kupfervergoldet, Ende 12. Jh. Nach [2].
Literatur
1. Oskar Wulff, Cherubim, Throne und Seraphim, Ikonographie der ersten Engelshierarchie, Altenburg 1894. – 2. Wilhelm Neuss, Das Buch Ezechiel in Theologie und Kunst bis zum Ende des XII. Jahrhunderts. Münster 1912. – 3. Simon Landersdorfer, Der ΒΑΑΛ ΤΕΤΡΑΜΟΡΦΟΣ und die Kerube des Ezechiel. Stud. z. Gesch. und Kultur d. Altertums Bd. IX, 3, Paderborn 1918. – 4. Buchberger II 852–854.
Verweise
Empfohlene Zitierweise: Schönberger, Arno , Cherub, in: Reallexikon zur Deutschen Kunstgeschichte, Bd. III (1952), Sp. 428–433; in: RDK Labor, URL: <https://www.rdklabor.de/w/?oldid=88877> [04.04.2022]
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