Bosse, Bossenkapitell
englisch: Bosse; französisch: Chapiteau à godrons; italienisch: Bozza, capitello sbozzato.
Fritz Viktor Arens (1942)
RDK II, 1062–1066
B. (ital. bozza, von ahd. bozen = schlagen) bedeutet zunächst jedes aus Stein oder Holz geschlagene Bildwerk, weshalb man frz. rondebosse die vollrunde Freiskulptur im Gegensatz zum Relief nennt. Das spätere Zeitwort bossieren (bosseln) betont mehr die ersten Stadien der Tätigkeit des Bildhauers, Bildschnitzers und des Steinmetzen, das Hinwegarbeiten der gröbsten Masse, das der eigentlichen Feinarbeit vorausgeht. Auf diesem Weg ist das Wort B. zur Bedeutung der begonnenen, angelegten, nicht vollendeten Bildhauer- oder Steinmetzenarbeit gelangt. Demgemäß versteht man unter Bossenwerk einen Mauerverband, bei dem die nur roh zugerichtete Vorderseite des Quaders den Eindruck des Unfertigen macht (vgl. Buckelquader).
In der B. stehengebliebene Arbeiten sind häufig versetzt worden und können über den Arbeitsvorgang bei Bildhauern und Steinmetzen Aufschluß geben. Verhältnismäßig zahlreich sind B.-Kapitelle versetzt worden, entweder weil man die Bautätigkeit an einer bestimmten Stelle nicht unterbrechen wollte, um auf die Fertigstellung der Bildhauerarbeit zu warten, oder – gewiß seltener – weil die Kapitelle après la pose bearbeitet werden sollten (vgl. RDK I, Sp. 940, und II, Sp. 597f.). Möglicherweise fand die erste Zurichtung der Blöcke zur Gewichtsersparnis beim Transport schon im Steinbruch statt. Das Verfahren ist zwar für das MA noch nicht nachgewiesen, war aber sowohl der Antike (Speyer, Museum, Reiterstatue aus dem Steinbruch Breitfurt im Bliestal) wie der Renaissance (Marmordavid des Michelangelo) geläufig.
Grund für die Nichtvollendung der Bildhauerarbeiten kann Geldmangel, Tod des Auftraggebers oder des Steinmetzen oder dessen Wegzug, beschleunigte Fertigstellung eines Bauteils im Hinblick auf eine Weihe und dergleichen sein. Die Kapitelle der Porta nigra in Trier sind wohl wie die anderen Bausteine wegen drohender Gefahr beschleunigt in der B. versetzt worden. Wenn an einem Kapitell im Erdgeschoß des Westwerks zu Corvey (um 855; Sp. 857, Abb. 3) nicht die kerbschnittartige Durcharbeitung an einzelnen Blättern begonnen wäre, würde man die Kapitelle auch in ihrem rohen Zustand für fertig halten. Weitere B.-Kapitelle finden sich an den Schallfenstern des Glockenhauses. Auch in der Bartholomäuskapelle zu Paderborn (1017) stehen neben fertigen Kapitellen unfertige, bei denen nur die Durcharbeitung der beiden Blattreihen fehlt. Am Speyrer Dom sind zahlreiche Kapitelle der Zwerggalerie unvollendet (Abb. 1 u. 2), andere halbfertig (Inv. Bayern, Pfalz 3, Abb. 136 und 161). Unvollendet sind auch zwei Kapitelle in der südöstlichen Durchgangshalle des Mainzer Domes, wohl absichtlich in die dunkelsten Ecken dieses Bauteils gesetzt, ferner alle Kapitelle und Kämpfer der nordöstlichen Durchgangshalle und ihres Portals sowie verschiedene Zwerggalerie- und Halbsäulenkapitelle an der Ostapsis (Inv. Hessen II, 1, S. 48ff. und 108); vielleicht kann man hier den unfertigen Zustand mit dem Tode des Bauherrn Kaiser Heinrich IV. (1106) und dem Weggang der lombardischen Steinmetzen in Zusammenhang bringen. Zu erwähnen sind noch die B.-Kapitelle in Gandersheim und Quedlinburg. Für die Kapitelle des Magdeburger Doms hat Hamann (Jb. d. preuß. K.slg. 30, 1909, S. 193f.) wahrscheinlich gemacht, daß sie von mehreren Meistern in der Werkstätte gearbeitet wurden. Als man sie dann versetzte, kamen mehrfach nicht zusammengehörige Stücke nebeneinander, so daß Anschluß-B. stehenblieben oder nachträglich noch bearbeitet werden mußten; auch ein im Groben bearbeitetes Kapitell ist vorhanden.
Versatzbossen sind kleine buckelförmige Erhöhungen an Säulenschäften, die zum Festhalten der Aufziehtaue dienten. Sie sollten nach dem Versetzen des betr. Stücks abgemeißelt werden. Stehengeblieben sind sie u. a. an den Säulentrommeln der Porta Praenestina in Rom, an den unteren Galeriesäulenschäften der Westfront des Trierer Doms (nach 1047) und an den Kryptasäulen von St. Maria im Kapitol zu Köln.
Für figürliche Bossenplastik vgl. Sp. 597f. und 608f. Nachzutragen wären einige Bogenfüllungen in den Seitenschiff-Blendarkaden des Straßburger Münsters (Abb. 3). Bezeichnenderweise sitzen die unfertigen Stücke immer in nächster Nähe der Wandvorlagen, die zuerst versetzt wurden; auch in diesem Fall war also der Wunsch maßgebend, den Aufbau nicht durch Rücksicht auf den Bildhauer zu verzögern. Als Bosse ist wohl auch ein lebensgroßer Kruzifix (Abb. 4) zu betrachten, der vom Rebgarten bei Pfastatt (Oberelsaß; Inv. Elsaß-Lothringen 2, S. 514) in das Mus. zu Mülhausen i. E. gelangte; anscheinend handelt es sich um eine Arbeit des frühen 16. Jh.
In besonderen Fällen kann „Bosse“ auch das gerade Gegenteil von „Bildwerk“ bedeuten, also etwa die Tischlerarbeit bei Altären, Chorgestühlen usw. im Gegensatz zur Arbeit des Bildschnitzers. Nur so ist der Konstanzer Spruchbrief von 1490 zu verstehen, in dem die Zunft der Kaufleute (zu der auch die Bildhauer und Maler zählten, während Steinmetzen und Tischmacher mit den Schmieden zur Schmiedezunft gehörten) erklärte, Simon Haider und sein Sohn hätten nur „boßen“ gemacht, aber keine Bilder geschnitzt, was sie auch gar nicht verstanden hätten (Jos. Hecht, Forschungen zur schwäbischen Kunst- und Baugeschichte, H. 1, Konstanz 1940, S. 31).
Zu den Abbildungen
1. Speyer, Dom, Langhaus, nördlicher Laufgang, östlicher Teil, Säulen mit Bossenkapitellen, E. 12. Jh. Phot. Bayr. Landesamt f. Denkmalpflege, München.
2. Speyer, Dom, südliches Querhaus, westlicher Laufgang, Bossenkapitelle, E. 12. Jh. Phot. Bayr. Landesamt f. Denkmalpflege, München.
3. Straßburg, Münster, Seitenschiffs-Blendarkaden, unvollendetes Zwickelrelief, um 1260. Phot. J. Manias, Straßburg.
4. Mülhausen im Elsaß, Mus., unvollendeter Kruzifixus, A. 16. Jh. Phot. Staat). Stadtbildstelle Mülhausen.
Verweise
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