Biedermeier
englisch: Biedermeier; französisch: Biedermeier (romantisme bourgeois), époque de la Restauration; italienisch: Biedermeier.
Harald Seiler (1939)
RDK II, 542–545
Das Wort B. bezeichnet die Zeit und die Kultur der Jahre zwischen 1815 und 1847 in Deutschland. Im Hinblick auf die politische Lage jener Restaurationszeit zwischen Wiener Kongreß und Berliner Märzrevolution (Vormärz) besaß lange auch das Wort B. einen abschätzigen Klang. Man achtete bezüglich des national-revolutionärgesonnenen „Jungen Deutschland“ die der Politik abgewendeten bürgerlichen Kreise gering und warf ihnen vor, ihre vaterländischen Ideale angesichts der Metternichschen Polizei verängstigt aufgegeben zu haben zugunsten eines im Grunde unwürdigen Privatdaseins innerhalb der staatlichen Bewachung. – Für diesen Typ erfand Viktor von Scheffel die beiden Vertreter „Bummelmeier“ und „Biedermann“ und veröffentlichte in den Fliegenden Blättern 7, 1848, Nr. 147: „Bummelmeiers Klage“ und „Biedermanns Abendgemütlichkeit“.
Das Wort B. – zuerst Biedermaier geschrieben – wurde durch den badischen Juristen und Dichter Ludwig Eichrodt (1827–92) volkstümlich, der vermutlich die Namen der beiden Scheffelschen Figuren zusammenzog und so den Namen fand für den angeblichen Verfasser seiner parodistisch-satirischen Gedichte. 1853 veröffentlichte er in seinem Büchlein „Gedichte in allerlei Humoren“ eine „Literaturballade“ mit dem Zusatz: „Hinterlassen vom alten Schulmeister Gottlieb Biedermaier und seinem Freunde Buchbinder Horatius Treuherz“. Zahlreiche Biedermeiergedichte veröffentlichte Eichrodt dann in den Jahren 1855-57 in den „Fliegenden Blättern“, und zwar gemeinsam mit seinem Freunde, dem badischen Arzt und nachmals berühmten Freiburger und Heidelberger Kliniker Adolf Kußmaul (1822–1902). Diesem waren im Jahre 1853 die Gedichte Friedrich Sauters (1766–1846) in die Hände gefallen (Die sämtlichen Gedichte des alten Dorfschulmeisters S. Fr. Sauter, Karlsruhe 1845), deren dilettantischer Charakter und kleinbürgerliche Art ihn zur Parodie reizten. Er begann, bewußt übertreibend, die Sautersche Manier zu karikieren, sandte die so entstandenen Gedichte zusammen mit den Sauterschen an Eichrodt und regte ihn auf diese Weise zu ebensolcher Produktion an. (Adolf Kußmaul, Jugenderinnerungen eines alten Arztes, Stuttgart 18992. A. Kennel, Ludwig Eichrodt, ein Dichterleben, Lahr 1895. W. E. Oeftering, Gesch. d. Lit. in Baden, 2, Karlsruhe 1937.) Die Eichrodtsche Literaturballade gilt als erstes mit dem Wort B. verknüpftes Zeugnis dieser poetischen Laune, sich an der kleinbürgerlichen Gesinnung der letztvergangenen Jahre zu belustigen. (Neue Ausgabe der Eichrodt-Kußmaulschen Gedichte Stuttgart 1911; vgl. Rudolf Majut, Das literar. Biedermeier, Aufriß und Probleme, German.-Roman. Monatshefte 20, 1932, S. 401ff.)
Die Beliebtheit und große Verbreitung der Biedermeiergedichte ließen den Namen nicht mehr in Vergessenheit geraten, so daß er als Bezeichnung zunächst der vormärzlichen Epoche schlechthin in Anwendung kam. Als Stilbezeichnung wird B. gebräuchlich gegen 1900, da Möbel und Kunstgewerbe der Zeit wieder in Mode zu kommen beginnen [1–3]. – Seit 1911 wird B. ein kunst- und kulturhistorischer Begriff, wiewohl zunächst ohne einheitliche Bestimmung und Wertung. Am meisten litt die Beurteilung der Zeit am Vergleich mit der voraufgegangenen Romantik einerseits, deren stärkere Intensität das B. als Epigonenzeit erscheinen ließ, andererseits eben auf Grund der Betrachtung der politischen Situation der Zeit. Das positive Wesen des B. und seine Leistungen wurden übersehen und die kulturellen Äußerungen bestenfalls als Resultate liebenswürdig-harmlosen Privateifers gelten gelassen [4–10].
Kommt K. Gläser [15] einer sachlichen Beurteilung des B. auch schon nahe, so beginnt eine völlige Um- und Neuwertung der Epoche doch erst mit der systematischen Durchleuchtung ihrer geistigen Struktur, die von literarhistorischer Seite ausging. Paul Kluckhohn’s Vortrag „Die Fortwirkung der deutschen Romantik in der Kultur des 19. und 20. Jh.“ [11] trug dazu schon alle Keime in sich und gab den Anstoß, das Wort B. zur literarischen Epochenbezeichnung der ersten nachromantischen Generation zu erheben. Dies leitete eine umfangreiche B.-Forschung ein [12. 13]. Dieser Forschung zufolge hat der Begriff B. heute nicht nur literarhistorisch, sondern allgemein kulturgeschichtlich eine verhältnismäßig feste Prägung. Ihr haben von kunsthistorischer Seite vornehmlich beigesteuert K. Simon [14], H. Sedlmayr [17. 18] und H. Seiler [20].
B. bezeichnet nicht mehr wie anfangs die fragliche Epoche in ihrem ganzen Querschnitt, sondern deren kulturelle Eigenart, wie sie sich neben der Strömung des „Jungen Deutschland“ entwickelte und an der strebsamen Tätigkeit des geistig regen Bürgertums abgelesen werden kann.
Literatur
1. Karl Rosner, Das deutsche Zimmer im 19. Jh., München 18994. 2. Ferdinand Luthmer, Bürgerliche Möbel aus dem ersten Drittel des 19. Jh., Frankfurt a. M. 1904. 3. Jos. Aug. Lux, Von der Empire- zur Biedermeierzeit, Stuttgart 1906. 4. Max von Boehn, Biedermeier, Deutschland von 1815–47, Berlin 1911. 5. Georg Hermann, Das Biedermeier im Spiegel seiner Zeit, Berlin 1913. 6. Richard Hamann, Die deutsche Malerei im 19. Jh., 2 Bde., Aus Natur und Geisteswelt 448/49, Leipzig 1914. 7. Jos. Folnesics, Innenräume und Hausrat der Empire- u. Biedermeierzeit in Österreich-Ungarn, Wien 19225. 8. P. F. Schmidt, Biedermeiermalerei, Zur Geschichte und Geistigkeit der ersten Hälfte des 19. Jh., München 19232. 9. H. H. Houben, Der gefesselte Biedermeier, Leipzig 1924. 10. E. E. Pauls, Der Beginn der bürgerlichen Zeit, Lübeck 1924.
11. Paul Kluckhohn, Die Fortwirkung der deutschen Romantik in der Kultur des 19. und 20. Jh., Zs. f. dt. Bildung 4, 1928. 12. Ders., Biedermeier als literarische Epochenbezeichnung, Dt. Vierteljahrsschrift f. Literaturwiss. u. Geistesgesch. 13, 1935, S. 1ff. 13. Ders., Zur Biedermeierdiskussion, ebd. 14, 1936, S. 495ff. 14. Karl Simon, Biedermeier in der bildenden Kunst, ebd. 13. 1935, S. 59ff. 15. Käte Gläser, Das Bildnis im Berliner Biedermeier, Berlin 1932. 15 a. Dichtung und Volkstum, hrsg. von Julius Petersen u. Hermann Pongs, 36, 1935, S. 141ff. 16. G. Dettmann, Bremische Baukunst der Empire- u. Biedermeierzeit, Niedersachsen 39, 1934, S. 202ff. 17. Hans Sedlmayr, Österreichs bildende Kunst, in: Jos. Nadler u. Heinrich Srbik, Österreich, Erbe und Sendung im dt. Raum, Salzburg-Leipzig 1936, S. 329ff. 18. Ders., Die Rolle Österreichs in der Geschichte der deutschen Kunst, Vortrag, gehalten an der Berliner Universität am 26. Mai 1937, im Auszug veröffentlicht in Forschungen und Fortschritte 13, 1937, Nr. 35/36. 19. K. K. Eberlein, Wer war Biedermeier?, Die Weltkunst 11, 1937, Nr. 13, S. 6. 20. Harald Seiler, Die Anfänge der Kunstpflege in Westfalen, Beitrag zur Wesensforschung des Biedermeier, Münster i. W. 1937.
Empfohlene Zitierweise: Seiler, Harald , Biedermeier, in: Reallexikon zur Deutschen Kunstgeschichte, Bd. II (1939), Sp. 542–545; in: RDK Labor, URL: <https://www.rdklabor.de/w/?oldid=89271> [05.04.2022]
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