Betnuß

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englisch: Bead, rosary, rosary bead Iprayer-bead; französisch: Grain de chapelet, aide-prière sous forme de capsule illustrée, noix de prière; italienisch: Chicco di rosario, palline.


Kurt Dingelstedt (1938)

RDK II, 371–377


RDK II, 373, Abb. 1. A. 16. Jh. Chatsworth.
RDK II, 375, Abb. 2. 2. H. 15. Jh. Hamburg.
RDK II, 375, Abb. 3. 16. Jh. Hannover.
RDK II, 375, Abb. 4. A. 16. Jh. London.
RDK II, 377, Abb. 5. Wahrscheinlich Flandern, A. 16. Jh. London.

Betnuß (Gebetsnuß, rosary bead, grain de chapelet, grain de rosaire, noix de prière). Das deutsche Wort (vermutlich eine Übersetzung aus dem frz.) ist bisher nicht über das späte 19. Jh. zurückzuverfolgen.

Wir verstehen unter B. eine in zwei Hälften aufklappbare, kleine, meist nicht über 6 cm Durchmesser hinausgehende nuß- oder schotenförmige Kapsel aus Buchsholz, später auch aus Elfenbein, Metall und anderen Stoffen. Ihre Oberfläche ist in der Frühzeit meist von Maßwerkornamenten durchbrochen oder zu zum Teil medaillonartigen Teilflächen abgeplattet. Im Innern jeder Hälfte ist eine mehr oder weniger figurenreiche, minutiöse Reliefschnitzerei eingelassen. Dargestellt sind Heiligenfiguren und Szenen aus dem Leben und der Passion Christi, zum Teil mit alttestamentarischen Gegenüberstellungen und meist mit entsprechenden Umschriften. Die Blütezeit der B. liegt zwischen E. 15. Jh. und 1530.

Die B. ist Anhänger am Rosenkranz oder an einer Schmuckkette. Besonders prunkvolle und gut erhaltene Beispiele für die erstgenannte Verwendung sind: der aus großen geschnitzten Kugeln bestehende Rosenkranz der Slg. des Duke of Devonshire in Chatsworth, ein Geschenk des Kardinals Wolsey an Heinrich VIII. (Abb. 1; vgl. auch Burl. Mag. 69, 1936, S. 40) und der etwa gleichzeitige im Louvre (Kat. Donation Rothschild 1902, Nr. 60, Taf. 28). Diese Verwendung der B. läßt sich überdies aus alten Rosenkranzdarstellungen nachweisen, z. B.: Slg. Figdor (Kat. III, 91), Anna Selbdritt, süddeutsch um 1500; Louvre, Madonna von Geistlichem verehrt vom Meister des Marientodes, um 1510–1530; Holzschnitt von 1531 mit zwei rosenkranztragenden Frauen [14, Fig. 582]; Grabplatte der Herzogin Barbara von 1534 im Dom zu Meißen, Inv. Sachsen 40, S. 339; Slg. Spitzer [2, Taf. V, 20], Figur einer Maria Magdalena, flämisch, A. 16. Jh. Nur in ganz seltenen Fällen sind auch die einzelnen (zunächst auf die Zahl 10 beschränkten) Perlen des Rosenkranzes als B. gebildet, d. h. aufklappbar [8, S. 175]. Für die zweite Verwendungsart kann ich nur auf einige Bilder verweisen, auf denen wahrscheinlich an Schmuckketten hängende B. dargestellt sind: Bildnis eines sächsischen Herrn von 1543 von Lucas Cranach d. Ä., Stuttgart, Staatsgalerie; niederdeutsches Frauenbildnis von 1541 im Berliner K.F.M. (Inv.-Nr. 1200).

Die B., in jeder Hinsicht ein nur dem Begüterten zugängliches Pretiosum, wurde schon früh begehrtes Sammelobjekt. Sie wurde dann oft in Metall gefaßt. Beispiele: Kopenhagen, mit etwa gleichzeitiger Niellofassung; die Hamburger Kreuzigungs-B. mit messing-vergoldeter Fassung der Spätrenaissance; Hannover, Kestner-Mus. Nr. 592.

Möglicherweise besteht in der Anbringung der B. am Rosenkranz ein Zusammenhang mit dem profanen, an einer Kette befestigten Anhänger (RDK I, Sp. 699ff.). Enlart [7, S. 288 u. Abb. 310] spricht von „pommes de ceinture“, die an einer Kette vom Gürtel herabhingen, bei entsprechender Größe religiöse Darstellungen enthalten und auch als Anhänger von Rosenkränzen dienen konnten. Die Kugelform der B. mag unter anderem von den kugelförmigen, oft maßwerkdurchbrochenen Parfümbehältern aus Metall angeregt sein. (Ein bereits nach den Anfängen der B. liegendes Beispiel bei Geisberg [15, Taf. 449, Nr. 1208] Tacuinus-Folge, Kette mit Kugelanhänger und Aufschrift „Ambra“.) Wie eng die Beziehungen zwischen Parfümbehältern und Rosenkranzanhängern waren, geht aus der Tatsache hervor, daß Charlotte d’Albret († 1514) mit emaillierten Goldkugeln durchsetzte Rosenkränze trug, die Parfüm aufnehmen konnten [8, S. 242].

Als Devotionale wurzelt die B. in der Entwicklung des im ausgehenden MA mächtig aufblühenden Rosenkranzgebetes. Mit den 50 Ave dieses Gebetes wurde in ebensoviel Zusätzen die Erinnerung an ein Ereignis aus dem Leben Christi und der Maria verbunden [9]. Diese auch in geschriebenen (Heidelberg U.-B. cod. Salem VII, 37 und cod. Trübner 148, beide 15. Jh.) und gedruckten Rosenkranzbüchern niedergelegten und häufig dargestellten „Geheimnisse“ bildeten die inhaltliche Grundlage zur bildlichen Ausstattung des Rosenkranzes. Technisch und formal mögen sie durch die Tradition der zahllosen, zum Teil minutiös geschnitzten Devotionalien in Form von Reisealtärchen, Diptychen und sonstigen Tafeln aus Elfenbein, Perlmutter oder Silber angeregt sein; vgl. etwa die als Medaillon gebildete winzige Predella des Miniaturschreins der Slg. Bourgeois (um 1500, Kat. Nr. 1101), eine Elfenbeintafel der 1. H. 15. Jh. im Brit. Mus. mit à jour gearbeiteten Reliefs von etwa 2,2 cm Höhe [12, Nr. 857], ein englisches Diptychon des mittleren 15. Jh. im Brit. Mus. [13, Nr. 72] und die zahlreichen von Pazaurek veröffentlichten Perlmutterschnitzereien, bes. den 4 cm großen Anhänger der Slg. Passavant-Gontard [17, Taf. 20, 3], von denen er sagt, daß sie auch als Rosenkranzanhänger benutzt worden sind.

Denkmäler. Die wohl früheste (fragmentarisch erhaltene) B., eine Buchsschnitzerei des ausgehenden 15. Jh., besitzt die Slg. Pierpont Morgan (Nr. 45); in der einen Hälfte ist eine Madonna mit Stifterin, in der anderen eine Beweinung dargestellt. Ebenfalls aus einem Stück sind die Reliefs der B. im Hamburger Mus. f. Kunst und Gewerbe (Abb. 2), in der Slg. Thewalt (Kat. Nr. 662 u. 663), in der Slg. Spitzer (2138), im KestnerMus. Hannover Nr. 592 und der etwas jüngeren Stücke im Victoria-and-Albert-Mus. in London (265/1874 und 6921/60), in der Wallace-Coll. in London (S-280) und im Brüsseler Mus. Cinq. (V. 355). Ebenso aus einem Stück bestehend, doch stilistisch erheblich andersartig sind eine B. im Hamburger Mus. f. Kunst und Gewerbe (Kreuzigungsnuß [5]), im Kestner-Mus. Hannover Nr. 591 und im Brit. Mus. (Waddesdon Bequest 239). Die letztgenannte Hamburger B. dürfte einen Übergang bilden zur vielfigurigen Gruppe, bei der die B. aus zwei Randstücken und einem Hintergrund-Mittelstück zusammengesetzt sind: Brit. Mus. Wadd. Bequ. 235 (Abb. 4), 236, 238; Pierpont Morgan 42; weiterhin Kopenhagen (Nat. Mus.) und Dresden (Grünes Gewölbe, schon im Inventar von 1640 erwähnt [10]); auch drei figurenärmere Exemplare sind hier zu nennen: London, Wall. Coll. S-281, Wadd. 237, Victoria-and-Albert-Mus. A 535/1910. Stilistisch verwandt, doch aus einem Stück gearbeitet die aus der Kunstkammer stammende B. im D.M. Berlin (Inv. Nr. 775/26). Die Nüsse der erwähnten vielfigurigen Gruppe sind häufig durch Hinzufügung von Innenklappen gleichsam wie kugelförmige Flügelaltärchen gearbeitet (Abb. 5), so auch vier- und fünfteilige B. in der Reichen Kapelle in München, im kunsthist. Mus. Wien und im Kunstmus. Kopenhagen.

Als spätere Sonderformen sind noch zu erwähnen: die B. aus Elfenbein in Form eines aufklappbaren, innen reliefierten Totenkopfes (Brüssel, Mus. Cinq.; Hannover, Kestner-Mus., Abb. 3; Paris; Slg. Charles Stein [4, S. 195], hier eine ganze Anzahl aneinandergereiht, und die hölzerne „Erbsenschote“ (ehem. Slg. Figdor, jetzt Berlin, Schloßmus.), die im Innern aufklappbare Erbsen mit winzig kleinen Reliefs zeigt. Eine im Hamburger Mus. f. Kunst und Gewerbe befindliche Erbsenschote mit Potiphar- und Paris-Szenen gehört zwar formal, aber nicht ihrem Zweck nach hierher. Erwähnt sei auch eine eiförmige B. aus Holz in Filigrankapsel mit Miniaturbildern, A. 17. Jh., in der Schatzkammer der Münchener Residenz.

Herkunft. Ein englischer Traktat [3] über Aus- oder Einfuhr von „beads“ im frühen 16. Jh. ist kein ausreichender Beweis für eine Lokalisierung der B. nach England. Dagegen sprechen für flandrischen Ursprung: flandrische Wappen (Wadd. 239), Inschriften, deren Inhalt beispielsweise aus einer in Flandern bevorzugt gelesenen Schrift Gregors stammt, besonders aber stilkritische Gründe. Zwar wären die ältesten Stücke stilistisch auch in Deutschland, am ehesten wohl in Nordwestdeutschland, möglich. Doch stehen die entwickelten, vielfigurigen Stücke in Architekturformen, Ornamentik, Motiven und plastischem Stil am ehesten in Einklang mit niederländischen Schnitzaltären.

Zu den Abbildungen

1. Chatsworth, Slg. Duke of Devonshire. Rosenkranz mit 10 Gliedern und einer (aufgeklappten) Betnuß, zwischen 1509 und 1526. Phot. Brit. Mus. London. Mit Genehmigung des Duke of Devonshire.

2. Hamburg, Mus. f. K. u. Gew., aufgeklappte Betnuß mit Madonna und Johannes Ev. Deutsch, 2. H. 15. Jh. Phot. Mus.

3. Hannover, Kestner-Mus., Betnuß in Form eines aufklappbaren Totenkopfes mit Kreuzigung und Sündenfall. 16. Jh. Dm. 2,5 cm. Lindenholz. Phot. Mus.

4. London, Brit. Mus., Waddesdon Bequest; Nr. 235, aufgeklappte Betnuß mit Kreuztragung und Kreuzigung. Wahrscheinlich Flandern, A. 16. Jh. Dm. ca. 5,2 cm. Phot. Mus. Mit Genehmigung des Brit. Mus.

5. Ebendort, Wadd. Bequ. 233, Altärchen in Form einer Betnuß. Mittelstück: Kreuzigung; Flügel: Kreuztragung und Kreuzabnahme; heruntergeklappte Hälfte: Auferstehung, Frauen am Grabe, Christus als Gärtner, Christus im Limbus. Dm. ca. 6 cm. Wahrscheinlich Flandern, A. 16. Jh. Phot. Mus. Mit Genehmigung des Brit. Mus.

Literatur

1. Zahlreiche Sammlungskataloge, teilweise mit Einleitungstext; darunter besonders wichtig: 2. La Collection Spitzer III, Abschn. Les sculptures en buis ..., Text von Arthur Pabst, Paris 1891. 3. Katalog Slg. Pierpont Morgan, Text von Williamson, New York o. J. 4. E. Molinier, Histoire générale des arts appliqués à l’industrie, II: Sculptures microscopiques, Paris 1897, S. 193ff. 5. J. Brinckmann, Hamburgisches Museum für Kunst und Gewerbe, Hamburg 1894, S. 718. 6. Jos. Destrée, Noix de chapelet, in: Bulletin des Musées royaux d’art et d’histoire, Jg. 1930. 7. C. Enlart, Manuel d’archéologie française 3: Le costume, Paris 1916. 8. Max von Boehn, Das Beiwerk der Mode, München 1928. 9. Beissel, Marienverehrung I und II. 10. Jean Louis Sponsel, Das Grüne Gewölbe zu Dresden IV, Leipzig 1932. 11. Die Bildwerke des Deutschen Museums Bd. 3, bearb. v. Th. Demmler, 1930. 12. R. Koechlin, Les ivoires gothiques français, 3 Bde, Paris 1924. 13. M. H. Longhurst, English Ivories, London 1926. 14. Diederichs I. 15. Max Geisberg, Die deutsche Buchillustration in der ersten Hälfte des 16. Jh., 2. Folge, Heft 9. 16. J. v. Schlosser, Kunst- und Wunderkammern der Spätrenaissance, Leipzig 1908. 17. G. E. Pazaurek, Perlmutter, Berlin 1937.