Belvedere (Bellevue)
englisch: Belvedere; französisch: Belvédère; italienisch: Belvedere.
Paul Ortwin Rave (1938)
RDK II, 230–235
Das Wort zeigt den italienischen Ursprung der Gebäudeform. Es wird namentlich seit der Renaissance angewandt für eine kleinere oder größere Bauanlage, von der man eine schöne Aussicht genießen kann. Zahlreiche Häuser und Villen im Süden, gelegentlich aber auch im Norden, weisen einen hochgelegenen Altan auf oder besitzen einen den übrigen Baukörper überragenden Turm, dessen oberstes Geschoß B. genannt wird (Abb. 1). Meist ist der Ort zum längeren Verweilen geeignet gemacht durch ein Dach, dessen Träger in möglichst weiten Abständen voneinander stehen. Falls es auf Mauern ruht, sind die Wandöffnungen möglichst luftig (Abb. 2).
Außer solchen Angliederungen an Wohnbauten werden auch vielfach kleine selbständige, architektonisch gestaltete Aussichtspunkte in den Gärten, Parks und öffentlichen Anlagen B. genannt, von der einfachsten bis zur reichsten Form: Die schlichte Terrasse mit einer Brüstung, ein runder oder viereckiger Turm mit freiem Laubengeschoß, ein offenes Tempelchen. Schließlich wurde der Name auch übertragen auf Landhäuser und Lustschlösser, denen eine gute Aussicht eignet.
Als frühestes baulich bedeutendes Beispiel eines B. sei das an der Mediceervilla Careggi bei Florenz genannt, die sich Cosimo I. durch Michelozzo (nach 1434) hat errichten lassen: das Obergeschoß eines der Seitenflügel ist in eine ionische Säulenhalle mit flacher Decke aufgelöst. Diese Art offener Dachhallen wurde dann allgemeiner seit der M. 15. Jh. vom toskanischen Landhaus auf das Stadthaus übertragen und dem festlich-geselligen Bedürfnis des Städters entsprechend ausgestattet. In florentinischer Frührenaissance ist der Papstpalast zu Pienza (bei Montepulciano) erbaut, 1460–64 durch Bernardo Rossellino für Pius II. (Piccolomini): in allen drei Geschossen öffnet sich eine Säulenhalle über dem Garten nach Süden gegen die weite umbrische Landschaft. Ein Menschenalter später entstand dann die Kernanlage des berühmtesten aller B., das den Eigennamen zum Gattungsnamen erhob: Innozenz VIII. (1484–92) ließ sich, 300 m nördlich seines vatikanischen Palastes, ein Gartenhaus mit Aussicht in das Tibertal bauen, eine zweigeschossige Säulenhalle zwischen vorspringenden turmartigen Eckbauten. Unter Julius II. (1503–13) legte Bramante diesem Gartenhaus den Cortile di Belvedere vor und verband das Ganze durch lange Galerien mit dem Vatikan. Die alte B.-Villa wurde bei der Umwandlung des 18. Jh. in ein Museum gänzlich verändert.
Von anderen italienischen Anlagen seien noch hervorgehoben das B. an der 1558 von Pirro Ligorio begonnenen Villa Pia im Vatikanischen Garten oder der B. genannte sechseckige Raum mit Balkon im ehemaligen Kloster S. Martino über Neapel. Allmählich übertrug sich der Begriff auf Landhäuser, wie bei der Villa Aldobrandini (oder Belvedere) in Frascati, die vorn Neffen Clemens VIII. 1558–1603 nach Entwürfen des Giacomo della Porta mit der Hauptfront zum Meer hin erbaut wurde, sowie auf Hügeln gelegene Aussichtspunkte, z. B. die Terrasse des Pincio über Piazza del Popolo, Piazzale Michelagniolo vor S. Miniato über Florenz oder auch die auf der Ostecke der Akropolis von Athen gelegene Flaggen-Bastei.
Das erste und für lange Zeit einzige B. nördlich der Alpen ist das Lustschloß in Prag, begonnen 1536 vom Kaiser Ferdinand für seine Gemahlin Anna, um ihren südlichen Neigungen entgegenzukommen: ein viereckiger Kastenbau mit Walmdach und ringsum laufender, klar gegliederter Säulenhalle (Abb. 3). Die Baumeister kamen anscheinend aus dem Kreise Sansovinos. Fast zwei Jahrhunderte vergingen, bis mit einer großartigen Anlage in Wien der Baugedanke des B. in Deutschland Fuß faßte. Prinz Eugen von Savoyen ließ sich 1714–21 durch Lukas von Hildebrandt jenes Lustschloß in der Kaiserstadt errichten, das aus dem kleineren Unteren und dem prächtigeren Oberen B. und dem dazwischen liegenden B.-Garten besteht: eine Meisterschöpfung des österreichischen Barock. In der Folge blieb kaum einer der deutschen Fürstensitze ohne ein B., meist idyllisch gelegenen Tempelchen im Park, die freilich unter mancherlei Bezeichnung bekannt sind (Bellosguardo, Bellevue, Tempel der Flora, der Pomona u. ä.). Das großherzogliche Jagdschloß B. bei Weimar (1724–32, Abb. 4) wirkt wie eine bescheidene ländliche Wiederholung des Wiener. Versteckt am Tollense-See bei Neubrandenburg liegt das B. der Großherzöge von Mecklenburg-Strelitz. Mit dem doppelgeschossigen säulenumstandenen B. Friedrichs d. Gr., 1770 von Unger erbaut, auf einer Höhe zwischen Schloß Sanssouci und dem Neuen Palais sowie dem dreigeschossigen B. im Charlottenburger Schloßpark, von Langhans d. Ä. 1787 erbaut, schließt die Reihe der Barock-B. Zu erwähnen ist das Schloß Bellevue im Berliner Tiergarten (von Boumann, E. 18. Jh.), Schloß Bellevue in der Oberneustadt zu Kassel und Schloß Belvedere bei Warschau, 1823 von Jacob Kubicki für den Statthalter Großfürsten Konstantin erbaut.
Der erwachende Sinn für Natur-Romantik ließ in der Umgebung Potsdams noch manche B. erstehen. In der Form mittelalterlicher Warttürme findet man solche auf dem Hohenberg bei Paretz und auf dem Brauhausberg (1805). Im Park von Glienicke baute Schinkel ein B. nach dem Vorbild des Lysikrates-Denkmals (1827). Seine Pläne für ein Schloß Belriguardo auf dem Tornow blieben unausgeführt, doch entstand gerade in der Zeit Schinkels und seiner Schüler kaum eines der kleinen Schlösser oder Landhäuser bei Potsdam ohne ein B. Das B.-Schloß auf dem Pfingstberg, 1847 unter Friedrich Wilhelm IV. begonnen, ist die bedeutendste Anlage dieser Art, die jenes von Südsehnsucht getragene Baugefühl des norddeutschen Klassizismus geschaffen hat (Abb. 5).
Zu den Abbildungen
1. Belvedereturm, Prag, 18. Jh., nach O. Schürer, Prag, Leipzig-Wien 1930, Taf. 73.
2. „Belvederche“, Frankfurt a. M., Haus Goldene Waage, A. 18. Jh. Phot. Hist. Mus. Frankfurt a. M.
3. Schloß Belvedere, Prag 1536, Phot. Dr. O. Schürer, München.
4. Jagdschloß Belvedere bei Weimar (1724–32), Vorzeichnung zu einem Kupferstich, Schloßmus. Weimar. Phot. Mus.
5. Potsdam, Belvedere auf dem Pfingstberg, 1847ff. Aquarell von F. W. Arnim, um 1856. Phot. Staatl. Bildstelle, Berlin.
Literatur
Verweise
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