Almosentasche
englisch: Alms-purse; französisch: Aumônière; italienisch: Borsa per elemosine.
Hans Wentzel (1934)
RDK I, 393–401
Almosentasche (franz. aumônière; vgl. auch Reujens, S. 392) ist die in das Mittelalter zurückreichende Bezeichnung für eine sowohl von Männern wie von Frauen getragene Tasche aus Stoff oder Leder. Die ursprüngliche Bestimmung dieser A. ist die Aufbewahrung von Geldstücken, die zur Austeilung als Almosen an die Armen bestimmt waren. Unter allgemeiner Beibehaltung des Namens A. bezeichnet man jedoch im späteren Mittelalter mit A. „eine Tasche jeder Form, in der Gegenstände kleinen Ausmaßes jeglicher Art Platz fanden, Schlüssel, Schmucksachen, Schreibtäfelchen, ja sogar Arzneien“ [1]. Die A. wurde meistens am Gürtel getragen (Abb. 1, Mann am Geldkasten von Jakob Reyge in der Lübecker Marienkirche) oder aber sie hing an Tragbändern, die entweder am Gürtel befestigt waren oder von der Schulter herabführten. – Zum Unterschied von der Geldbörse hat die A. eine ganz bestimmte Gebrauchsform herausgebildet: die eines Trapezes mit abgerundeten oberen Ecken. Da die A. zur vollkommenen Kleidung des Vornehmen gehörte (etwa der heutigen Handtasche der Dame entsprechend) und nicht wie die Börse eine sorgsam gehütete und verschlossene Geldkatze war, brauchte sie nicht den bei Beutel und Geldbörse üblichen geknoteten Verschluß, sondern es genügte der einfache und gefällige Überhang eines Stückes Stoff der Rückseite. War aus bestimmten Gründen doch ein sicherer Verschluß erwünscht, so gab es dafür „doppelte“ A., die in der gestickten äußeren Hülle eine zuknöpfbare Einsatztasche vom selben Umriß hatten; auf diese Weise konnte dann auch die leicht abgenutzte Innenseite unter Beibehaltung der kostbareren Hülle ausgewechselt werden (vgl. die Zeichnungen bei Viollet-le-Duc [2] Abb. 3). Schließt die A. am oberen Ende halbkreisförmig, entsprechend einem eingenähten kleinen hölzernen Reifen oder Metallring zur bequemen Einführung der Hand bei gefüllter A., so ist der Überschlag meist gesondert angenäht; schließt die Form oben gerade ab, so ist der Überschlag nur von hinten über die tragende wagerechte Schnur nach vorn gezogen. Dieser verschließende Überhang fehlt sehr selten und wohl nur bei Beispielen, die den Namen A. nur auf Grund einer weniger präzisen Handhabung dieser Bezeichnung erhalten haben (Geldsäckel im Schatz der Liebfrauenkirche in Maestricht [3] Abb. 443). Zur Ausstattung einer A. im eigentlichen Sinne gehören die heute oft fehlenden Stoffanhängsel, Bommeln oder Troddeln, zum Teil einfache Knoten, die die Ecken abbinden oder die Stickereifäden in sich sammeln, zum Teil mit reichen Fadenbüscheln oder mit aufgesetzten Perlen; in besonderen Fällen werden diese Anhängfei als Bleibommel mit schmuckstückhafter Linienführung gebildet (einige Beispiele des 15. Jh. abgeb. bei [1] S. 85). Selten und dann nur im 15. Jh. hat die A. einen Beschlag in Leder oder Metall (zum Teil zur Befestigung am Gürtel; ein schöner Silberbeschlag bei [1] S. 84 und [2] Abb. 4).
Hauptherstellungsort der A. war in gotischer Zeit Paris, doch hat dieses nach Gay [1] Art und Form der A. aus dem Orient übernommen, wie sich denn die blühende Zunft der Hersteller solcher A. „faiseuses d’aumônières sarrazinoises“ nannte (über die besondere Technik vgl. Schnütgen [4]). Von Paris scheint ein reger Export von A. ausgegangen zu sein; jedenfalls galten sie (im Gegensatz zu den gewöhnlichen Geldbörsen) schon im Mittelalter als etwas besonders Kostbares – 1357 verpfänden die Markgrafen von Brandenburg für die beträchtliche Summe von über 409 Gulden folgendes „cleynod“ und „broidere“: „eynen blaen syden gurdel ind eyne blae syden tesche, mit gülden G. beslagen ind mit etzlichen gesteintze ind perlen besat“ (Quellen zur Geschichte der Stadt Köln, IV, Nr. 389) –. Das ist auch der Grund, weshalb sie trotz ihrer ursprünglich rein profanen Bestimmung gern als Reliquienhüllen verwendet wurden; daß uns überhaupt eine größere Anzahl von A. überliefert ist, verdanken wir hauptsächlich dieser häufigen sakralen Verwendung.
Die Pariser A., also die eigentlichen A., unterscheiden sich von den späteren (Geldbörsen) auch durch ihre figürliche oder ornamentale Ausgestaltung: dem vornehmen profanen Charakter entsprechend, herrschen bei szenischen Darstellungen Bilder der Minne und aus dem ritterlich-galanten Leben vor – die A. war ein bevorzugtes „Minnegeschenk“ –, wie auch die A. in der höfischen Literatur eine Rolle spielt (Proben – etwa aus dem Roman der Rose – bei Viollet-le-Duc [2], S. 29ff., und bei M. de Laborde: Notice des émaux ... dans les galeries du musée du Louvre, Bd. II, Paris 1853, S. 144). Auf einer A. des 13. Jh. im Schatz der Liebfrauenkirche in Tongern (Abb. 2) ist eine ritterliche Zweikampfszene gestickt; auf dem Überschlag sprengt ein Gepanzerter aus einer Burg hervor, aus deren Erker eine junge Dame hervorsieht. Er schwingt sein Schwert gegen einen Ritter im unteren Felde der A., der mit einer (anscheinend geraubten) Frau in eine Burg flüchten will. Vor dieser sitzt in der Gebärde eines Richters ein bärtiger Greis, der auf den Ritter einspricht. Der Schatz der Kathedrale von Troyes bewahrt nach Viollet-le-Duc [2] eine A. mit folgender Darstellung: Auf dem Überschlag eine schlafende Frau, die ein Jüngling in langem Gewand und mit Flügeln (Amor) betrachtet; darunter zwei Frauen, die ein Herz mit einer Säge zerteilen (vgl. dazu Kohlhaussen, Minnekästchen, 1928, Nr. 61, und die Veröff. d. Graph. Ges. 21, 1915, Nr. 181). Mit Ausnahme der A. in Tongern handelt es sich bei diesen Darstellungen (wie auch bei einer A. im Cluny-Mus. [De Farcy, La Broderie, 1890, Taf. 26 b], die auf dem Überschlag einen Engel mit Pfeilen zeigt, darunter eine auf einem Fabeltier reitende Dame, die durch einen Pfeil verwundet ist) wohl nicht um Illustrationen eines bestimmten Romans, sondern um jene typischen Darstellungen aus der höfischen Literatur, wie sie besonders den Minnekästchen geläufig sind. Auch Drolerien kommen auf A. vor: mit den geläufigen Fabelwesen des 14. Jh. (Menschenkörper auf Tierbeinen) auf einer A. im Cluny-Mus. (De Farcy, Taf. 26a); Musikanten auf einer A. im Domschatz zu Xanten (Abb. 3).
Neben figürlichen Darstellungen kommen dann A. in rein ornamentaler Ausschmückung vor: die älteste nach Viollet-le-Duc [2, Taf. 2], aus E. 12. Jh. in Troyes, eine spätere mit Inschriftbändern Resurexit sicut dixit in Maastricht (Reusens [3], S. 293), mit gewebten Wappenmustern in Tongern (Liebfrauenkirche, Phot. Mus. Roy., Brüssel, B 6609), mit Wappen zwischen Hakenkreuzmustern ebendort (Phot. Mus. Roy. B. 232); eine A. aus dem 15. Jh. mit Schwänen und Pfauen im Cluny-Museum (De Farcy, Taf. 55); in dieser einfacheren Form nähern sich die A. wieder stärker den Geldbörsen, vgl. die „Börse aus der Zeit Karls VII.“ bei Gay, S. 196, und die „gibecière“ ebendort S. 776.
Deutsche A. werden nur in einzelnen Beispielen greifbar und scheinen sich in der Ausgestaltung und in der Ikonographie der dargestellten Themen nicht sehr von den A. des Ursprungslandes Frankreich unterschieden zu haben. Das älteste bekannte deutsche Beispiel ist die in Seide gestickte sog. A. der hl. Elisabeth, jetzt im Germanischen National-Museum in Nürnberg (Abb. 4; vgl. Religiöse Kunst aus Hessen und Nassau, Marburg 1932, Nr. 231; Textband S. 178). Sie dürfte aus der Zeit um 1300 stammen; Hauptmotiv der Stickerei ist ein stilisiertes Rankenwerk, in das einzelne Figuren eingesetzt sind. Auf dem Überschlag eine geflügelte und gekrönte Figur, die in den Händen Pfeile hält (wohl Frau Minne; vgl. die oben erwähnte A. im Cluny-Mus.), unten ein Mann und eine Frau im Zwiegespräch.
Eine A. des 15. Jh. in der Danziger Marienkirche (s. W. Mannowsky, Der Danziger Paramentenschatz, Berlin, o. T., II, 2, Nr. 370) zeigt schon nicht mehr die gewöhnliche trapezoide Form mit Überschlag; sie ist etwas verzogen rechteckig und auf beiden Seiten mit figürlicher Stickerei versehen; auf Grund des Darstellungsinhaltes ist sie aber durchaus als A. im üblichen Sinne anzusehen. Auf der einen Seite (Abb. Mannowsky, Taf. 179 a) kniet ein Ritter vor einer Dame, die ihm den Helm aufsetzt; rechts unter Bäumen das Pferd des Ritters. Auf der Rückseite der A. (Abb. 6) die Fortsetzung der Szene: links dieselbe Dame, jetzt mit einem Falken auf der Hand, rechts der Ritter zu Pferde steigend. Dagegen ist sehr fraglich, ob sich eine zweite „A.“ in Danzig (Abb. 7) als solche bezeichnen läßt; es dürfte sich um eine Tasche von fraglicher Bestimmung handeln (vielleicht der franz. gibecière entsprechend, s. Gay); einwandfrei um einen Beutel und damit nicht um eine A. im eigentlichen Sinne handelt es sich bei dem Beispiel aus Weißenburg i. B. (Abb. 5). Das gleiche gilt von einer sog. A. quadratischer Form ohne figürlichen Schmuck in St. Gereon in Köln (Fr. Bock, Das heilige Cöln, Leipzig 1858, Nr. 9). Jedenfalls sind diese späteren Beutel und Taschen von verschiedenster Form abzugrenzen gegen die in Form und Darstellungsinhalt ziemlich einheitlichen eigentlichen A.; doch teilen sie mit ihnen die häufige nachträgliche Verwendung als Reliquienhüllen.
Zu den Abbildungen
1. Lübeck, Marienkirche, Mann mit A. am Opferkasten, von Jakob Reyge, Anf. 16. Jh. Phot. Kg. Seminar Marburg.
2. Tongern, Liebfrauenkirche, Ende 13. Jh. Phot. Mus. Roy., Brüssel.
3. Xanten, Domschatz, A. um 1300. Auf dem Überschlag ein Greis, auf einem Saiteninstrument spielend; unten links eine geflügelte Alte mit einem Dudelsack; unten rechts junge Dame mit Handorgel. Phot. Rhein. Bildarchiv, Köln.
4. Nürnberg, Germ. Nat.-Mus., sog. „A. der heiligen Elisabeth“, um 1300. Phot. Kg. Seminar Marburg.
5. Weißenburg i. B., St. Andreas, Beutel, 15. Jh. Phot. Bayr. Landesamt f. Denkmalpflege, München.
6. Danzig, Marienkirche, A. 15. Jh. Nach Mannowsky, Paramentenschatz, Taf. 179.
7. Danzig, Marienkirche, Tasche, 15. Jh. Nach Mannowsky, Paramentenschatz, Taf. 179.
Literatur
1. Victor Gay, Glossaire archéologique, Paris 1929, Bd. 1, 84. 2. Viollet-le-Duc, Mobilier III, S. 26ff. 3. Reusens, Eléments d’archéologie chrétienne, Bd. 2, Löwen 1886, S. 392ff. 4. Al. Schnütgen, Gestickte Aumonière des 14. Jh. in Xanten, Zs. f. christl. K. 15, 1902, Sp. 219.
Verweise
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