Figurensatz

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englisch: Figures formed by letters; französisch: Fiance, calligramme; italienisch: Testo stampato in forma di figura.


Hellmut Rosenfeld (1985)

RDK VIII, 944–950


RDK III, 17, Abb. 5. Daniel Hopfer, Sachsenspiegel. Augsburg 1516.
RDK VI, 343, Abb. 3. Ausg. Augsburg 1540.
RDK VIII, 945, Abb. 1. München, 2. H. 12 Jh.
RDK VIII, 945, Abb. 2. Göttweig, A. 15. Jh.
RDK VIII, 947, Abb. 3 a und b. Mainz 1515.
RDK VIII, 949, Abb. 4. Rudolstadt 1676.

I. Definition

Unter F. versteht man eine mit Hilfe von beweglichen Lettern abgesetzte Schriftfläche, deren auf Mitte gesetzte Zeilen unterschiedliche Länge haben, so daß der Umriß der Schriftfläche eine im Regelfall einfache geometrische Figur ergibt. Im Gegensatz zum Figurgedicht ist der Text des F. unmetrisch, die Figur im allgemeinen ohne Bezug zum Inhalt des Textes.

II. Ma. Vorläufer: figurale Schriftflächen in Handschriften

Mit dem F. wurden ältere, mindestens seit dem frühen MA bestehende Schreibergewohnheiten weitergeführt. Zahlreiche ma. Handschriften zeigen figurale Schriftflächen am Ende eines Kapitels oder anderen Textabschnitts, einer Lage oder auch, um an beliebiger Stelle eine mit dem vorhandenen Text nur teilweise zu füllende Seite ästhetisch ansprechend zu gestalten. Häufig sind auf der Spitze stehende Dreiecke, aber auch andere Figuren wie Rauten, Kreuze, Pyramiden, kommen vor.

Beispiele vom 5. bis zum 15. Jh. stellte Paul Lehmann zusammen (Figurale Schriftflächen, Zs. für Buchkde. 1, 1924, S. 74-77, zitiert nach dem Abdruck in: ders., Erforschg. des MA, Bd. 3, Stg. 1960, S. 60-66; ebd. S. 65 der Hinweis auf die Möglichkeit, solche figuralen Schriftflächen als Indiz für die Abhängigkeit von Handschriften zu nutzen); s. auch Bernh. Bischoff, Die südostdt. Schreibschulen und Bibl. in der Karolingerzeit, T. 1: Die bayr. Diözesen, Wiesb. 21960, S. 280, Register s. v. „Schriftfiguren“. Weiteres beliebig ausgewähltes Beispiel des 14. Jh. für die Gestaltung einer ganzen Seite als Schriftfigur sind fol. 60-62, 64 im „Apparatus sexti libri decretalium“ des Jean Le Moine („135 Mss.“, H. P. Kraus, New York, Kat. Nr. 100, o. J. [ca. 1962], S. 25, Taf. 21). Manchmal gibt es figurale Schriftflächen in Verbindung mit Lehrfiguren.

Auch Randglossen und Scholien wurden zu figuralen Schriftflächen geordnet, in der Regel ebenfalls zu geometrischen Formen; figürliche Darstellungen sind die Ausnahme.

In Dreiecken, Rauten usw. geschrieben wurde z. B. der Kommentar zur metrischen Hohe-Lied-Fassung des Wilhelm von Weyarn in den Handschriften der 2. H. 12. Jh. in München, Bayer. St.bibl., codd. lat. 6432 und 17177 (Abb. 1). Zu weiteren Beispielen s. P. Lehmann a. a. O. S. 62f.

Sonderfälle sind die sog. „Scholia figurata“. Beispiele bieten lateinische Handschriften der „Phainomena“ des Arat. Die Scholien, Texte aus den „Fabulae“ des Hyginus, wurden in Form der Sternbilder geschrieben, vielfach indem man Zeilen kurviert führte und so der Figur anpaßte. Der Umriß der Figuren ist mit dünnen Linien angegeben; ohne Buchstabenfüllung blieben Köpfe, Hände und Attribute, die man farbig ausmalte. Am frühesten nachzuweisen sind diese „Scholia figurata“ in der wohl um 830 in Lotharingien entstandenen Sammelhandschrift London, Brit. Libr., Harley Ms. 647; sie verdankt ihre Entstehung möglicherweise Lupus, Abt von Ferrières, einem Schüler des Hrabanus Maurus. Das allgemein angenommene spätantike Vorbild wird vermutungsweise ins 4. Jh. datiert. Zum Harley Ms. vgl. Gg. Thiele, Antike Himmelsbilder, Bln. 1898, S. 152; Verz. astrol. Hss. 3, Textbd. S. 149-151, Taf.bd. Abb. 156, 160, 166f.; Köhler Bd. 4 Textbd. S. 101-107, Taf.bd. Taf. 62-73. Zu engl. Hss. des 10./11. und 12. Jh. in der Nachfolge des Harley Ms. s. Köhler Bd. 4 Textbd. S. 77, 79, Abb. 1f.; Verz. astrol. Hss. 3, Textbd. S. XVIIff. Daß es auch einen anderen Überlieferungsstrang gab, zeigt eine oberital. Hs. vom A. 15. Jh. in Göttweig, Stiftsbibl., Ms. 146 (Abb. 2; s. ebd. S. XIX, Fig. 5; Ausst.kat. „900 Jahre Stift G.“, Göttweig 1983, Nr. 1091, Abb. S. 580).

Auch nach der Erfindung der Buchdruckkunst lebten solche Schreibergewohnheiten fort (vgl. Kalligraphie). Schreibmeister ordneten Titel und Überschriften als figurale Schriftflächen an, z. B. Heinrich Rudinger 1564 ein Vorsatzblatt zu einem 1551 von ihm für Kurfürst Ott-Heinrich geschriebenen Planetenbuch (Heidelberg, Univ.bibl., Hs. 3394: Walter M. Brod, Fränk. Schreibmeister und Schriftkünstler, Würzburg 1968 [Mainfränk. Hh., 51], S. 20, Abb. 4) und - Beispiel des 17. Jh. - der Schweizer Maler und Schulmeister Hans Ardüser (1557- nach 1617) Überschriften seiner Gedichte (Ms. im Stadtarchiv Maienfeld, Kt. Graubünden: Paul Zinsli, H. A.’s Poetereien, Neue Zürcher Ztg., Nr. 185, 22. 4. 1973). Noch im 19. Jh. wurden private Aufzeichnungen in figuralen Formen geschrieben, z. B. ein Liebesbrief 1830 in acht Herzen (Tegernsee, Obb., Heimatmus.: H. Rosenfeld, Bild und Schrift, Archiv für Gesch. des Buchwesens 11, 1971, S. 1658) oder ein Stammbucheintrag von 1843 in Form eines Rades (Günter Böhmer, Sei glücklich und vergiß mein nicht, Mchn. 1973, S. 55).

III. Buchdruck

Im Buchdruck wurden - entsprechend ma. Handschriften - vorzugsweise die letzten Zeilen auf der Schlußseite eines Buches oder am Ende eines Textabschnitts als F. gesetzt, aber auch Kapitelüberschriften. Meist ergeben die Zeilen eine spitz zulaufende (Spitzkolumne), korbförmige oder ähnliche Fläche.

Aus der großen Zahl von Büchern, in denen F. an vielen Stellen verwendet ist, seien herausgegriffen Francesco Colonna, Hypnerotomachia Poliphili, Ven. (Aldus Manutius) 1499 (Ndr. New York und Ld. 1976); Hieronymus Rodler, Eyn schön nützlich büchlin und underweisung der kunst des Messens mit dem Zirckel, Richtscheidt oder Lineal..., Simmern 1531 (Ndr. Graz 1970), und – französisches Beispiel – Geoffroy Tory, Champ Fleury..., Paris 1529 (Ndr. Paris 1931).

Zur Gestaltung von *Titelblättern wurde F. vor allem im 16. und in der 1. H. des 17. Jh. benutzt; in Deutschland sind solche Titelblätter seit dem 2. Jz. des 16. Jh. häufig nachzuweisen.

Man ordnete die Zeilen bevorzugt zu auf der Spitze stehenden Dreiecken, wobei die erste(n) Zeile(n) üblicherweise in größeren Schriftgraden gesetzt und Worte getrennt wurden. Beliebig ausgewähltes Beispiel ist das Titelblatt zu Martin Luther, De abroganda missa privata sententia, Witt. 1522 (vgl. auch Abb. 3a; RDK III 18f. Abb. 5f., Bd. VI 343 Abb. 3; [1] Bilderatlas, T. 1 Abb. 90, 860, 940; T. 2 Abb. 469 u.ö.). Es gibt auch kompliziertere Anordnung, z. B. in mehreren Dreiecken (Julius von Pflugk-Harttung, Kgwb. der Renss., Bd 1, Rahmen dt. Buchtitel im 16. Jh., Stg. 1909 [Ndr. Lpz. 1980], Nr. 16 und 18 [1518]) oder 1676 in Form eines Brunnens, dessen Wasserstrahlen aus kurvierten Schriftzeilen bestehen (Abb. 4). Zu weiteren dt. Beispielen des 17. Jh. s. Martin Bircher, Dt. Drucke des Barock 1600-1720 in der Hzg. August Bibl. Wolfenbüttel, Abt. A, Nendeln 1977ff. Französische und italienische Beispiele bei Ruth Mortimer, Harvard College Libr. Dep. of Printing and Graphic Arts, Cat. of Books and Mss., T. 1: France 16th C. Books, Cambr./Ma. 1964; T. 2: Italian 16th C. Books, Cambr./Ma. 1974.

Auch der Kolophon wurde als F. gesetzt, z. B. in Form eines Pokals die Schlußschrift Joh. Schöffers zu einer Schrift des Johs. Trithemius von 1515 (Abb. 3 b; abgedruckt bei Karl Faulmann, Ill. Gesch. der Buchdruckk. ..., Wien usw. 1882, S. 303, s. auch S. 69f.) und ähnlich die Schlußschrift zum Bericht vom Einzug Elisabeths von Österreich 1571 in Paris (enthalten in: [Simon Bouquet,] Bref et sommaire recueil de ... l’ordre tenue à la ioyeuse et triumphante Entree de ... prince Charles IX...., Paris 1572 [Ndr. Amst. usw. o. J.]).

Auch ganze Seiten im laufenden Text wurden mit Hilfe von F. gestaltet, z. B. Remy du Puys, La tryumphante et solemnelle entree ... de ... Charles prince des Hespaignes ... En sa ville de Bruges..., Paris (1515?; Ndr. Amst. und New York o. J.), Bl. Gl (Kreuzform) und F4v (Dreiecke). Gelegentlich kommt F. auf Einblattdrucken vor, meist in einfachen Formen (z. B. Geisberg-Strauss Bd. 1 S. 283, 362; Bd. 2 S. 624f.; Bd. 3 S. 926, 1094; Strauss, Single-leaf woodcuts, Bd. 1 S. 17, 195, 424, 426; Bd. 2 S. 838). Auch der Text auf Gelegenheitsdrucken und Personalschriften wurde - ähnlich *Figurgedichten - manchmal als F. gestaltet, z. B. ein 1618 in Riga gedruckter Willkomm als Doppelpokal (Christa Pieske, Norddt. Gelegenheitsdrucke vom 16. bis 19. Jh., Nordelbingen 31, 1961, S. 62) und, ebenfalls als Pokal, eine Hochzeitsadresse von 1625 (M. Bircher a. a. O. Bd. 1 Nr. A 703).

Zu den Abbildungen

1. München, Bayer. St.bibl., cod. lat. 6432 (Wilh. von Weyarn, metrische Fassung des Hohenlieds, in der rechten Kolumne Kommentar des Rupert von Deutz), fol. 36v. Freising (?), 2. H. 12. Jh. Foto Bibl.

2. Göttweig, Stiftsbibl., Ms. 146 (Arat, Phainomena), fol. 21, Sagittarius. Oberitalien, A. 15. Jh. Foto Kh. Inst. der Univ. Wien.

3a und b. Titelblatt (a) und Kolophon von: Johs. Trithemius O.S.B., Compendium sive Breviarium primi voluminis annahum sive historiarum, de origine regum et gentis Francorum..., Mainz (Joh. Schöffer) 1515. Foto Bayer. St.bibl., Mchn.

4. Titelblatt von: Michael Hörnlein, Der Brunn, den die Fürsten gegraben haben, herfür quellend alle in der H.

Schrift befindliche Gebet..., Rudolstadt 1676. Nach Rob. C. Warnock und Roland Folter, The German Pattern Poem..., in: Fs. für Detlev W. Schumann zum 70. Geburtstag, Mchn. 1970, S. 56 Abb. 7.

Literatur

1. Lex. Buchwesen, Bd. 1 S. 243, Bd. 2 S. 733. - 2. Lex. der K., Bd. 1, Lpz. 1968, S. 705f.