Enthaltsamkeit
englisch: Temperance; französisch: Continence, abstinence; italienisch: Continenza.
Karl-August Wirth (1961)
RDK V, 740–761
I. Begriff
Im Verlaufe des 18. Jh. hat sich der Begriff E im deutschen Sprachgebrauch eingebürgert (Trübner-Alfr. Götze, Dt. Wörterbuch, Bln. 1940, Bd. 2 S. 200) und seitdem die ältere Benennung „Enthaltung“ mehr und mehr verdrängt. E. ist ein relativer Begriff, mit dem man ein einmalig, zeitweilig oder immerwährend ablehnendes Verhältnis zu Sinnenfreuden umschreibt; da er nicht unterscheidet, ob diese Einstellung nur bestimmten oder jeglichen Sinnengenüssen gegenüber besteht und ob dieses Verhalten aus angeborener Veranlagung oder erworbener Haltung erwachsen ist, kann allein aus dem jeweiligen Zusammenhang der besondere Inhalt des Begriffes E. ermittelt werden.
E. dient ferner als Oberbegriff für eine ganze Reihe von Bezeichnungen, die bestimmte Formen des Sich-Enthaltens umschreiben, z. B. E. von sinnlicher Liebe (Castimonia), E. im Trinken (Sobrietas). Diese präziseren Unterbegriffe sind jedoch gleichzeitig auch den absoluten Tugendbegriffen der Innocentia, der Pudicitia, der Castitas usw. zugeordnet bzw. den entsprechenden der Laster (Luxuria, Gula, Cupiditas, Voluptas) kontrastiert. Hier bezeichnen sie ein Sich-Enthalten von unmäßigem Sinnengenuß und gehören darum auch zur Mäßigung (Moderatio), wie die E. selbst der Mäßigkeit (Temperantia) untergeordnet ist oder – zeitweise – mit ihr synonym war.
Eine weitere Erschwerung der begrifflichen Bestimmung von E. geht auf subjektive und auf historisch bedingte Interpretationen bei Übersetzungen aus romanischen Sprachen zurück; die Vielzahl der dort üblichen Bezeichnungen entfällt im Deutschen. Da aber auch die fremdsprachlichen Begriffe vielfach subjektiv ververwendet wurden und Bedeutungswandlungen unterworfen waren, sind Ungenauigkeiten bei der Übertragung nur allzu verständlich. Daraus ergibt sich die besondere Bedeutung, die der Erkenntnis der dem einzelnen Fall zugrunde liegenden Quellen zukommt.
II. Tugenden- und Lasterbäume des MA
Für das Mittelalter bieten die Tugenden- und Lasterbäume wesentliche Aufschlüsse über die Begriffsbestimmung. Zu diesen Systematisierungen lieferten Erörterungen bei den Kirchenvätern und in der theologisch-moralischen Literatur des ersten Jahrtausends n. Chr. die Voraussetzungen (als deren Quellen kommen vor allem die Tugenden- und Lasterkataloge im N.T. in Betracht: z. B. Galater 5, 19–22; antike Allegorien und Personifikationen zum Thema E. spielten wohl keine größere Rolle).
Über die einschlägigen Texte unterrichtet der Registerband zu Migne, P.L. (Bd. 220, Sp. 649f.: continentia; Sp. 658: abstinentia; Sp. 673f.: sobrietas).
In Schriften, die an Mönche, Nonnen oder auch an Kleriker gerichtet sind, finden sich häufiger Tugenden- und Lasterlisten eingefügt, so etwa bei Kassian (Collationes: Migne, P.L. 49, Sp. 477ff.), Pomerius (De vita contemplativa libri III: ebd. Bd. 59, Sp. 415–520), Haimo von Halberstadt (De varietate Buch 2: ebd. Bd. 118, Sp. 887–932), Honorius Augustod. (Speculum ecclesiae, comm. in conventu fratrum: ebd. Bd. 172, Sp. 1087–92). Für die bildende Kunst sind drei in der 1. H. 12. Jh. entstandene Tugenden- und Lasterlisten von Bedeutung:
1. Der „Liber floridus“ des Lambert von St.-Omer, eine um 1120 geschriebene illustrierte Enzyklopädie, enthält als Symbol der Ecclesia fidelium einen Tugendenbaum, dessen einer in einer Rose endigender Ast mit der Continentia identifiziert ist. Die E., hier wie alle Tugenden als weibliche Halbfigur in einem Medaillon dargestellt [2, Abb. 64], nimmt in Lamberts Tugendreihe den Platz ein, den in seiner Vorlage, dem Paulusbrief, die Benignitas innehatte; der Continentia-Zweig wächst aus dem in der Caritas wurzelnden Baumstamm Spes hervor.
2. Besonders wichtig ist der 60 Tugenden umfassende Katalog im „Speculum virginum“, im 1. Dr. 12. Jh. angeblich von Konrad von Hirsau verfaßt (Matth. Bernards, Die hs. Überlieferung u. die theologischen Anschauungen des Spec. virg., Diss. Bonn 1950 [masch.]). Er enthält außer der jeweiligen Begriffsbestimmung Hinweise darauf, wie sich der Besitz einer Tugend im äußeren Verhalten zeigt und welche innere Gesinnung der Pflege der jeweiligen Tugend zugrunde liegt. Das System, nach dem die Tugenden gruppiert sind, ist in Form eines sich verzweigenden Baumes gegeben: in der Humilitas wurzelnd, steigt der Stamm, sich in Zweige verästelnd, zur Caritas empor und trägt als Krone Christus, den neuen Adam. Sobrietas und Continentia sind Blätter am Zweige der Temperantia bzw. der Fides (zu den zahlreichen Darstellungen vgl. außer [2], S. 68 Anm.: Martha Strube, Die Ill. des Spec. virg., Diss. Bonn, Düsseldorf 1937).
3. Das gleiche System mit gleicher Einordnung der E.-Begriffe findet sich im „Liber de fructu carnis et spiritus“ (fälschlich als Werk des Hugo von St. Viktor bei Migne, P.L. 176, Sp. 997–1006; Verz. der zahlreichen Hss.: Scholastika 28, 1953, S. 74 Anm. 54); diese Schrift geht auf das Vorbild des Speculum virginum zurück (ebd. S. 74–76; umgekehrte Chronologie nehmen [2] sowie die ältere Lit. an).
Erwähnenswert ist schließlich die Schrift „De rota verae et falsae religionis“ des Hugo de Folieto [2, S. 71f., Taf. 44f.], wo im Bilde des Rades Sobrietas neben Paupertas, Humilitas, Caritas, Voluntas und Puritas als Abschnitt der Radfelge („cant[h]i [sunt] necessariae occupationes“) vorgeführt wird, der durch zwei Speichen („radii sunt discrete cogitationes“) – „modus edendi“ und „mensura cibi“ – mit der Radachse („hic axis est cura fratris“) verbunden ist.
Erklärungen der Tugendbegriffe und ihrer Zuordnung zueinander, wie sie Vinzenz von Beauvais in seinem Speculum gab (z. B. Spec. hist. VI, 22), haben viel zu der inhaltlichen Präzisierung der Bezeichnungen beigetragen.
III. Ma. Personifikationen
Die zahlreichen Personifikationen des Themas E., die in der bildenden Kunst des MA anzutreffen sind, können in drei Gruppen geschieden werden: die erste – älteste – ist gekennzeichnet durch die Gegenüberstellung von bzw. den Kampf zwischen einer Tugend- und einer Lasterfigur (A); die zweite Gruppe von E.-Bildern kommt in Tugendenzyklen vor (B); die dritte schließlich machen die E.-Darstellungen aus, die als Illustrationen zu höfischer Dichtung, von Lehrbüchern u. dgl. entstanden (C).
A. Kampf zwischen E. und Lastern
Die ältesten bekannten Darstellungen der E. tragen die Bezeichnungen Sobrietas und Abstinentia; es sind Illustrationen zur Psychomachie des Prudentius bzw. aus dieser herausgelöste und inhaltlich umgedeutete Abbildungen.
Im Prudentiustext wird nur die Sobrietas genannt, hier allerdings in einer mit den hoch- und spät-ma. Vorstellungen nur teilweise übereinstimmenden Bedeutung; sie erscheint als Widersacherin der Luxuria und versucht, die von dieser betörten und zur Ergebung bereiten Kämpfer von ihrem Tun zurückzuhalten (Vers 344), hält der Luxuria das Kreuz entgegen, vor dem ihre Pferde scheuen (407), wirft einen Stein auf die gestürzte Gegnerin (417) und verhöhnt sie (427). Daraufhin flieht Luxuria mit ihren Begleiterinnen und läßt Beute zurück, die sich anzueignen Sobrietas und die ihrigen verschmähen (450). Sobrietas ist hier die vor allem übereilten Tun warnende Führerin, die „nüchtern“ und „besonnen“ vor allem Schädlichen bewahrt; in diesem Sinne begegnet uns Sobrietas in der Hs. Paris, B.N. ms. lat. 8318, fol. 54 v, 10. Jh. [1, S. 9], als Gegensatz zur Trägheit (Acedia) in einer späterhin öfters der Temperantia oder auch der Selbstbeherrschung zugemessenen Rolle (s. u.).
In den Illustrationen zum Prudentiustext kommt Sobrietas in fünf Bildern vor (Nr. 46–49 sowie 54 nach der Zählung von Stettiner [1], Tafelbd. S. 13f.). Sie wurde in den Hss. der Psychomachie des 10.–13. Jh. überwiegend weiblich dargestellt und trägt einen Umhang über dem langen Gewand, ein Schleier verhüllt ihr Haupthaar; gelegentlich wird sie (zumal in jüngeren Hss.) durch einen Nimbus ausgezeichnet (z. B. Paris, B.N. ms. lat. 15 158, fol. 48 u. 49 v, dat. 1289: [1] Taf. 198, 1 u. 3). Als Attribut dienen gemeinhin ein Kreuzstab, an dem manchmal ein Wimpel befestigt ist (Brüssel, Bibl. roy. ms. 10066–77, fol. 126, 11. Jh.: [1] Taf. 175, 4), seltener ein Vortragekreuz (mit lilienförmigen Enden: Pariser Hs. von 1289, fol. 48) oder – entgegen dem Text – Schild und Lanze (Brüssel, Bibl. roy. ms. 9968–72, fol. 96 r u. v, 11. Jh.: [1] Taf. 185, 8 und 186, 9); bisweilen erscheint die Sobrietas als jüngerer Mann, der – im Typus Darstellungen Johannes Ev. vergleichbar – ein Buch hält (London, B.M. ms. Cotton Cleopatra CVIII, fol. 18, 11. Jh.: [1] Taf. 58, 17) oder die Kriegstracht römischer Legionäre trägt (Leiden, U.B. Cod. Burm. Q 3, fol. 133 v ff.; Brüssel, Bibl. roy. ms. 9987–91, fol. 111 v ff.; Paris, B.N. ms. lat. 8085, fol. 62f.; Valenciennes, Bibl. ms. 563, fol. 19 v u. 21f.: sämtlich 11. Jh., vgl. [1], Taf. 95–98).
Die verschiedenen Szenen variieren in der Erzählung nur wenig. Bis auf gelegentliche dramatischere Schilderungen herrscht ein sparsamer Illustrationsstil.
Von Text und illustrierten Hss. der Psychomachie angeregte Darstellungen der Sobrietas im Kampf mit der Luxuria finden sich in der Buchmalerei und in der Plastik. In enger Anlehnung an den Prudentiustext – wie weitere Miniaturen zeigen, wohl nach dem Vorbild einer illustrierten Psychomachie-Hs. – ist im Hortus deliciarum, Ende 12. Jh., die Auseinandersetzung von „Temperantia vel Sobrietas“ mit der Luxuria geschildert (Abb. 2). Knapper in der Schilderung sind die Beispiele in der Plastik des 12. Jh., einem Elfenbeinrelief im B.M. London (Goldschmidt-Weitzmann, Elfenbeinskulpturen Bd. 2 S. 79f. Nr. 224; die später geläufige Verbindung zwischen E. und David, dessen Leben auf dem Relief ausführlich geschildert ist, dürfte hier erstmals im Bild veranschaulicht worden sein; s. u.) und dem Archivoltenrelief in Aulnay, wo die Widersacherin der Luxuria den Namen Castitas trägt (Mâle II [1910], S. 103 Abb. 49).
Durch die Zuordnung zur Luxuria und das einem Kreuzzepter vergleichbare Attribut ist die als „CASTRIMAGIA“ bezeichnete Tugend auf einem Glasfenster der Kath. zu Lyon, 13. Jh., ebenfalls als von Prudentius herzuleitende Personifikation der E. ausgewiesen (zur Darstellung und zum Begriff vgl. Lucien Bégule, Les vitraux du moyen-âge et de la renss. dans la région lyonnaise etc., Lyon 1911, S. 48f., Abb. 49).
Die Vorstellung vom Streit zwischen Sobrietas und Luxuria wurde literarisch durch Alanus ab Insulis erneuert (Anticlaudianus Buch 9, Kap. 6: Migne, P.L. 210, Sp. 572), die Hss. dieses Werkes blieben jedoch überwiegend ohne Illustration (vgl. Florentine Mütherich, Münchner Jb. III. F. 2, 1951, 73).
Die übrigen Darstellungen unterscheiden sich in der Benennung der E.-Personifikationen fast ausnahmslos von der Psychomachie. Die vorherrschende Gegenüberstellung zeigt die E. als Widersacherin der Völlerei (Gula). Das älteste Beispiel hierfür scheint in den Illustrationen fol. 53f. der Pariser Hs. B.N. ms. lat. 8318, 10. Jh., erhalten, in denen formal von Prudentiusillustrationen übernommene, inhaltlich aber umgedeutete Paare von Tugenden und Lastern wiedergegeben sind (vgl. im einzelnen Stettiner [1], S. 9); die Zuordnung der Sobrietas zur Trägheit (Acedia) und die Umbenennung einer Sobrietasdarstellung als Castitas in derselben Hs. (wie später in Aulnay, s. o.), bezeugen in der Folgezeit nur noch seltener vorkommende Gruppierungen.
Unter den deutschen E.-Darstellungen des 12. Jh., die in Kontrast zu Lastern gesetzt sind, verdienen die Miniaturen der Hss. München, St.B. Clm. 13 002, fol. 3 v u. 4, Regensburg-Prüfening um 1165 (Boeckler, Regensburg S. 20ff.), und des Hortus deliciarum besondere Beachtung (Straub-Keller Taf. 44 u. 46). In der Folge der älteren Prüfeninger Hs. bildeten Sobrietas und Voluptas das sechste Gegensatzpaar, beiden wurden biblische Szenen als „Zitate“ beigefügt: der schmachvolle Tod der ehebrecherischen Isebel und Ahabs und die Entrückung des Elia; Sobrietas ist als vornehm gekleidete junge Frau mit einem Spruchband („reservo“) wiedergegeben. Die Darstellung ist im 2. V. 13. Jh. auf fol. 6 v der Hs. München, St.B. Clm. 17 403 kopiert worden (Abb. 3). Im Hortus deliciarum tragen die E.-Personifikationen Rüstungen; Continentia erscheint im Gefolge der Fides, der die Idolatria gegenübersteht, und Sobrietas, die ihr Schwert in den Bauch der Völlerei stößt, hat als untergeordnete Begleiterin Abstinentia bei sich.
Am linken Westportal der Kathedrale zu Laon streiten „(sobriet)AS ET HEBETA(tio)“, E. und Stumpfheit, miteinander (Mâle II S. 129). Auf einem um 1200 entstandenen Reliquiar im Schatz der Kath. zu Troyes ist die über Ebrietas siegreiche Sobrietas dargestellt [2, S. 21]; dem gleichen Paar begegnet man um 1230 in einem Glasgem. der Kath. in Auxerre wieder [2, S. 83 Anmerkung 1]. Ob eine der Tugenden im Gewände des rechten Portales der Straßburger Münsterfassade die E. darstellt, ist ungewiß.
Für die zahlreichen Darstellungen, in denen Tugenden auf den von ihnen überwundenen Lastern stehen, s. Tugenden und Laster (vgl. auch Arthur Martin in: Mélanges d’archéol., d’hist. et de littérature 2, 1851, 34).
Häufig gaben Illustrationen zu Traktaten über Tugenden und Laster Gelegenheit, E.-Personifikationen zu gestalten. Während im Hoch-MA die Beispiele zahlenmäßig beschränkt waren, doch schon im 10. Jh. vorkamen (z. B. die genannte Pariser Hs. B.N. ms. lat. 8318), sind seit dem 14. Jh. viele derartige Erzeugnisse nachzuweisen. Zunächst in lateinischer Sprache verfaßt, wurden im Laufe des 15. Jh. Traktate über den Kampf der sieben Haupttugenden gegen die sieben Todsünden auch in verschiedenen Nationalsprachen verfaßt bzw. in diese übertragen. Ein solches Werk erschien 1474 bis 1482 bei Joh. Baemler in Augsburg in drei Auflagen, nachdem es zuvor durch zahlreiche Hss. – allein sieben in der St.B. München (v. d. Leyen-Spamer S. 110ff.) – überliefert worden war.
Im „Lumen animae“ des Vorauer Kanonikus Gottfridus (Vorau, Stiftsbibl. Ms. 130, fol. 111 v, dat. 1332: Abb. 4) tritt die Abstinentia als Widerpart der Gula auf; sie reitet auf einem Hirsch, ihre Helmzier ist ein Nest mit jungen Raben, ihr Wappen ist ein wolfsartig gebildetes Tier (luter, vgl. Du Cange Bd. 5 S. 157); ferner ist ihr eine Schlange als Attribut beigegeben. Mit denselben Attributen erscheint in der Sammelhs. München, St.B. Cgm. 3974, fol. 84, Mitte bis 3. V. 15. Jh., die Temperantia (Abb. 5), vor der, wie ein Engel gestaltet, der Intellectus steht. Einfacher, doch mit gleichen Attributen ist die „messigkait“ in der annähernd gleichzeitig entstandenen Hs. München, St.B. Cgm. 514, fol. 152 v, wiedergegeben; auch die Holzschnittillustrationen der Augsburger Frühdrucke halten sich genau an den Text (Schramm, Frühdrucke Bd. 3, Abb. 226).
Gegensätzlich zu diesen E.-Bildern, in denen die Tugenden und Laster in einzelnen Illustrationen vorgeführt wurden, ist im „Chateau de Labour“ (Ausgabe 1499; Mâle III, S. 340 Abb. 191, 1) der Kampf zwischen der auf einem Pferd herzureitenden Sobrietas mit der „Gloutonie“ geschildert; ebenso wurde auch das vermutlich von André de la Vigne ( † 1527) zu Ehren von Louise von Savoyen geschriebene Gedicht „Des Vertus contre les péchés mortels“ illustriert (Paris, Mus. Cluny ms. lat. 815: Bull. Soc. Fr. Mss. 6, 1922, 22).
Darstellungen von Tugenden und Lastern, die nicht als Textillustrationen dienen, sind im Spät-MA in allen Gattungen der Malerei anzutreffen (s. Tugenden und Laster); in Miniaturen, die liturgische und Erbauungsbücher schmücken, sind allerdings E.-Personifikationen nicht häufig. Im Stundenbuch Wien, N.B. Nr. 1855, fol. 153 v (Beschr.Verz. 8, 7, 3 S. 175, Taf. 52, 1), das im 3. Jahrz. 15. Jh. wahrscheinlich für Karl VII. von Frankreich geschaffen wurde, ist den Bußpsalmen eine Folge von Tugenden und Lastern, darunter Sobrietas und „Gloutonnie“, vorangestellt; die E. wird durch einen jungen, auf einem Schachbrett sitzenden Mann dargestellt.
B. Die E. in den Tugendenzyklen
Innerhalb von Tugendenzyklen des 12. Jh. begegnen uns E.-Bilder erstmals in größerer Zahl (ausnahmsweise kommen Sobrietas und Continentia neben Virginitas und Castitas, als besondere Tugenden Maria verstanden, bereits in der 1. H. 11. Jh. vor: Beginn des Johannesevangeliums im Codex aureus Epternacensis, jetzt G.N.M. Nürnberg, Abb. 1 a und b).
Auf einem der von Abt Udascalcus von St. Ulrich und Afra in Augsburg zwischen 1126 und 1149 in Auftrag gegebenen Bildteppiche war neben den Schutzheiligen des Klosters und mehreren Tugenden die Continentia wiedergegeben (Titulus: „Obtuli fructum sexagesimum“; Lehmann-Brockhaus, Schriftquellen Nr. 2584 S. 588). Nicht ganz klar ist die Systematik, nach der die Inschrift Continentia neben Disciplina und Tristitia auf einer gravierten (Tauf?-) Schale im Mus. zu Groningen erscheint (Anton C. Kisa, Zs. f. chr. K. 18, 1905, 232f.). Als barhäuptige jugendliche Frau mit Spruchband ohne Inschrift hat Nikolaus von Verdun die Sobrietas auf dem Klosterneuburger Altar, 1181, abgebildet; ihr zugeordnet ist die Prudentia mit der Schlange. Diese Gruppierung scheint der erste bildliche Niederschlag der im späteren MA geläufigen Vorstellung, daß E. und Klugheit miteinander zusammenhängen (Schlange als Attribut der Sobrietas, Intellectus als Reitknecht der E., vgl. Abb. 5). Ebenfalls als jugendliche Frau wurde die Continentia neben der Fides (s. o. II) und der Mansuetudo in den Freskomalereien der Prüfeninger Abteikirche dargestellt (nach 1153; Clemen, Roman. Mon.Mal. S. 355). Auf fol. 67 v des Hortus deliciarum sind Sobrietas und Abstinentia wiedergegeben, sie tragen Spruchbänder („Eleuatio manuum mearum sacrificium vespertinum“, Ps. 141 [140], 2; „Voluntarie sacrificabo tibi“, Ps. 54 [53], 8; RDK III 694, Abb. 2). Hildegard von Bingen würdigte die E. ausführlich als „Zierde der Tugenden“, sah in ihr eine Hindeutung auf die hl. Dreifaltigkeit und brachte sie in Bezug zu den Gaben des Hl. Geistes (Taube als Attribut!); als „Mutter der (Tugend-)Kräfte“ ist die E. geschmückt mit einem goldenen Kronreif mit der Inschrift: „Immerdar entfache die Glut!“ (Scivias – Wisse die Wege, hrsg. von Maura Böckeler, Salzburg 1954, Text S. 257ff., Taf. 69). Gemeinsam mit 15 anderen Tugenden wurde die Abstinentia um 1200 in der Tambourzone der Mittelkuppel von S. Marco in Venedig dargestellt [2, S. 53 Anm.].
Die in spätromanischer Zeit öfters vorkommenden E.-Darstellungen auf Reliquienschreinen (z. B.: Köln, St. Pantaleon, Albinusschrein, um 1190: Continentia; Köln, Dom, Dreikönigenschrein: Sobrietas; s. [2], S. 47 u. S. 46 Anm. 1) dienen zur Kennzeichnung der sittlichen Qualitäten der in den Schreinen beigesetzten Heiligen.
Im 13. Jh. setzte sich die Reihe der Beispiele mit gleichbleibender Dichte fort. Hierbei sind besonders diejenigen von Interesse, bei denen die E.-Personifikationen eigene Attribute vorweisen. In der Bible moralisée London, B.M. ms. Harley 1527, fol. 110 v, Mitte 13. Jh. (Laborde, Bible moralisée Bd. 4, Taf. 581), erscheint z. B. als Personifikation von Castitas und Abstinentia eine Frau mit Palmzweig und Taube. Beide Attribute wurden in der 1. H. 13. Jh. öfters als Kennzeichen mehrerer anderer Tugenden (etwa der Temperantia: Chartres, Kathedrale, nördliche Querschiffsfassade; der Castitas: Reliefs der Kathedralen in Paris und Amiens, vgl. Mâle II, S. 116 Abb. 57) verwendet. Trotz ganz verschiedener Benennungen haben wir dem gleichen Themenbereich angehörende Abbildungen vor uns.
In der Buchillustration des 14. Jh. kommen E.-Bilder in ganz verschiedenen Zusammenhängen vor.
Gemeinsam mit Judith rahmt Sobrietas eine Darstellung des Sakramentes der Ehe in einem bald nach 1323 entstandenen Breviar der B.N. Paris, ms. lat. 10483, fol. 45 v (Leroquais, Bréviaires Bd. 3, S. 206). In einer illustrierten Hs. des gemeinhin Zucchero Bencivenni zugeschriebenen Kommentars zum Vaterunser erscheint Sobrietas, in schöne Gewänder gekleidet und mit einem Diadem geschmückt, und hält in ihren Händen jeweils drei weiße Tauben (= Tugenden); zu ihren Füßen ist ein Löwe dargestellt (Florenz, B.N. cod. II. VI. 16, fol. 72, 14. Jh.: Paolo d’Ancona, La Miniatura fiorentina Bd. 2, Florenz 1914, S. 103). Auch in bebilderten Hss. der Ethik des Aristoteles wurde „Le Continent“ als Illustration zu Buch 7 bisweilen gestaltet, so etwa in der 1376 in Paris entstandenen Hs. Den Haag, Mus. Meermanno-Westreenianum ms. 10 D 1, fol. 126, wo die E. zwischen „Raison“ und „Concupiscence“ steht (A. W. Byvanck, Les principaux mss. à peintures de la Bibl. roy. des Pays-Bas et du Mus. Meermanno-Westreenianum à La Haye, Paris 1924, S. 114, Taf. 53).
C. Illustrationen zu Dichtungen
Die meisten E.-Darstellungen des 13.–15. Jh. verdanken ihre Entstehung der bedeutsamen Rolle, die die E. innerhalb des höfischen Sitten- und Moralkodex spielte. In literarischen Werken finden sich oftmals entsprechende Hinweise und Betrachtungen, und Illustrationen zu Versdichtungen sind es denn auch, in denen E.-Bilder im 14. und 15. Jh. am häufigsten vorkommen.
In der Dichtung der höfischen Blütezeit sind es weniger solche Begriffe, die sich unmittelbar auf die E. beziehen, als vielmehr diejenigen der mâze und der kiusche, mit denen u. a. auch die E. umschrieben wurde (einen nützlichen Überblick über die inhaltlichen Bestimmungen dieser Bezeichnungen gibt Hans Naumann, Dt. Kultur im Zeitalter des Rittertums [= Hdb. d. Kulturgesch.], Potsdam 1938, S. 164ff.). Gottfried von Straßburg beschreibt die Continentia als „contenanze“ (aus franz. contenence: Matth. Lexer, Mhd. Wörterbuch Bd. 1, Lpz. 1872, Sp. 1675), für Freidank ist enthabung – Abstinentia – „der beste list“, weil sie der Anfang aller Tugend ist (Gegensatz: Begehrlichkeit als Anfang aller Sünde; so schon Papst Leo I., 440–61: Migne, P.L. 54, bes. Sp. 438ff.). Zu den Personifikationen von mâze in der Literatur vgl. Lexer a.a.O. Sp. 2065, zu deren bildlichen Darstellungen s. Temperantia.
Die wichtigsten literarischen Anregungen für E.-Darstellungen waren die 1279 im Auftrag Philipps III. von Frankreich von dem Dominikaner Laurent von Orleans verfaßte „Somme le Roi“ (vgl. [2], Seite 84), Jehan Clopinel de Meungs Fortsetzung des Roman de la Rose von Guillaume de Lorris, Ermengaud de Béziers Breviari d’Amor und in gewisser Hinsicht auch die Trionfi Petrarcas.
In der „Somme le Roi“ begegnet man dem geläufigen Gegensatzpaar Sobrietas-Gloutonnie in Verbindung mit Darstellungen des Gleichnisses vom armen Lazarus und vom reichen Prasser (Lk. 16, 19–31); in illustrierten Hss. dieses Werkes, die bis ins späte MA nachzuweisen sind, ist die E. vielfach dargestellt (z. B. Brüssel, Bibl. roy. ms. 11 041, fol. 135 v: Abb. 7).
Den Illustrationen des Rosenromans liegt die Erzählung von der Begegnung der Contrainte-Abstinence (erzwungene Enthaltsamkeit) und des falschen Scheins (Faux-Semblant) mit der üblen Nachrede (Malbouche) zugrunde. Bisweilen ist die E. als Dominikaner (Abb. 6) oder als Dominikanerin (Wien, N.B. Nr. 2568, fol. 92: Beschr.Verz. 8, 7, 3 S. 125) abgebildet; Pilgerstab, Gebetbuch und Rosenkranz können ihr als Attribute dienen. Bei oft großer Freiheit der Illustrationen gegenüber der vom Text entworfenen Vorstellung vom Aussehen der E. ist die Identifizierung der E. öfters nur durch die Anordnung der Miniatur in der Abfolge des Textes möglich. Für die zahlreichen Beispiele vgl. Alfr. Kuhn, Die Illustration des Rosenromans, Jb. Kaiserhaus 31, 1913/14, 1–66, und Lucien Fourez in: Scriptorium, Revue internat. des études relatives aux mss. 1, 1947/48, 213–39, ferner Fritz Saxl und Hans Meier, Verz. astrologischer und mythologischer ill. Hss. des lat. MA, III: Hss. in engl. Bibliotheken, London 1953, Bd. 1, S. 143, 220, 381 u. 353.
Analog zu den üblichen Tugenden- und Lasterfolgen gab Ermengaud in seiner Dichtung eine Liste der sieben Tugenden und der sieben Laster der Liebenden (Vers 33 874 – 33 881). Die Bezeichnungen, die den Darstellungen beigegeben sind, weichen bisweilen vom Text ab. In Hss. aus M. 15. Jh. in der N.B. Wien (Nr. 2563, fol. 244: Beschr.Verz. 8, 7, 2 S. 161; Nr. 2583, fol. 237 v: ebd. S. 143, Taf. 44) ist die Abstinentia bzw. Retenement als gekrönter König mit einem Zepter dargestellt, den übrigen sechs Tugenden entsprechend.
Bei Petrarca ist zwar keiner der geläufigeren E.-Begriffe genannt, doch wird die E. durch eine verwandte Bezeichnung umschrieben: im Gefolge der triumphierenden Castitas erscheint die Moderatio, die nicht nur hier ganz im Sinne der E. auftritt, sondern bei bildlichen Darstellungen gelegentlich auf abstinence umgetauft wurde: ein niederländischer Bildteppich des 2. V. 16. Jh. zeigt z. B. die E. und temperence damit beschäftigt, die Räder des Triumphwagens der chastete zu schieben (Ludw. Baldaß, Die Wiener Gobelinslg., Wien 1920, Bd. 1 Taf. 2).
Als „guida et guardia di tutte le virtute“ erscheint die Abstinentia in den „Fior di Virtù“ (Kap. 27), die um M. 14. Jh. entstanden und in ihrem Entstehungsland Italien häufig illustriert wurden. Die Beispiele für dieser Tugend gemäßes Verhalten sind der Tiersymbolik (s. Esel) und der griechischen Geschichte entnommen (Alexanders Feldzug nach Babylon).
IV. Neuzeit
Im ausgehenden MA traten die verschiedenen E.-Begriffe immer mehr zugunsten der Bezeichnung Temperantia zurück, und zu Beginn der Neuzeit kamen die E.-Begriffe nur noch ziemlich selten vor, dafür aber in ihrer Bedeutung zumeist etwas schärfer umrissen als im MA: während die Abstinentia überwiegend die E. von delikater Speise, die Sobrietas diejenige von alkoholischen Getränken zu bezeichnen pflegte, verstand man unter Continentia hauptsächlich die vom Willen geweckte E. von Sinnenlust („muove ... à ... superare l’appetito de i diletti corporei“: Ces. Ripa, Iconologia, Rom 1603, S. 90); die E. im Umgang mit dem anderen Geschlecht wurde bisweilen auch als Castimonia besonders bezeichnet, ist aber auch in der Benennung Continentia enthalten (Continenza di Scipione). Es ist jedoch zu betonen, daß man die Verwendung all dieser Begriffe in den hier genannten Bedeutungen keineswegs dogmatisch handhabte und daß sich die Grenzen zwischen den einzelnen E.-Begriffen immer wieder verwischen, am stärksten bei der Continentia und der noch öfters im Sinne des MA verstandenen Sobrietas. Zur genaueren Deutung ist stets wichtig, ob der E.-Begriff zur Charakterisierung einer historischen Persönlichkeit dient, ob er im Zusammenhang mit pädagogischer Sittenlehre steht oder in das System christlicher Tugendlehre eingegliedert ist. In welchem Umfang die Benennungen schwankten, mag man daraus ersehen, daß im Mondo simbolico des Fil. Picinelli (Mailand 1653; zit. nach der latein. Erstausgabe Köln 1680 [1681]) alle E.-Begriffe und noch dazu die der Temperantia unter Jejunium registriert sind.
A. Personifikationen
Ebensowenig wie im MA haben sich in der Neuzeit allgemein verbindliche Darstellungsformen für die verschiedenen E. -Personifikationen durchzusetzen vermocht.
1. 16. Jh.
Im 16. Jahrhundert lebten die aus dem MA überkommenen Bildtypen vielfach weiter, gelegentlich unter dem Einfluß von Tugendlehren humanistischer Prägung etwas abgewandelt. Diese Modifikationen äußerten sich im Vorkommen von E.-Personifikationen in neuem Zusammenhang (a) sowie in dem Bestreben, durch Beigabe von Attributen den jeweiligen Begriff bildlich zu präzisieren (b). Das Auswahlprinzip für die Attribute bestand in der Übernahme von Beigaben, die für andere Tugendpersonifikationen eingebürgert waren: auf diese Weise wurde der inhaltliche Zusammenhang zwischen E. und verwandten Tugenden sinnfällig gemacht. E.-Bilder erlangten dadurch erstmals eine relative Selbständigkeit und waren nicht mehr so ausschließlich wie im MA Illustration bestimmter Texte oder Glied einer mehr oder weniger standardisierten Folge von Tugendenpersonifikationen. Zugleich trat in der ikonographischen Vielfalt der E.-Darstellungen der komplexe Inhalt des Sammelbegriffs E. deutlich hervor.
a) Neue Anregung zur Wiedergabe der Continentia gab die Cebestafel (RDK III 383–90): eine der neun Tugenden ist die ἐλευϑερία, die in der lateinischen Übersetzung des Joh. Rack (1507) als Continentia und bei Hans Sachs als Zucht erscheint (Helene Herne, Die Allegorie bei H. Sachs, Halle 1912, S. 124f.; ebenso die Beischrift auf Erhard Schöns Holzschnitt der Tabula Cebetis von 1531: RDK III 385/86, Abb. 1).
b) Während die Continentia auf Darstellungen der Cebestafel gewöhnlich nicht besonders charakterisiert ist – bei Erh. Schön ist sie als jugendliche weibliche Gestalt, die mit anderen Tugenden im Reigen tanzt, dargestellt –, beschrieb sie Hans Sachs in seiner „Klagered der tugentreichen fraw Zucht uber die ungezembten welt“ von 1536 als ernstes, mageres Weib in himmelblauem Gewand und gab ihr eine Rute, eine beschriebene Tafel und Zaumzeug als Attribute (Henze a.a.O. S. 12 u. 30). Diese charakterisierenden Beigaben entstammen ganz verschiedenen Vorstellungen: das Zaumzeug ist von Temperantiabildern übernommen, die Rute als Symbol der Virtus (Gem. des Virgil Solis im Mus. Rothenburg o. T.), der Furcht (Metus; vgl. die 1564 bei Hieron. Cock verlegte Stichfolge Circulus vicissitudinis rerum humanarum, nach M. van Heemskerck), der Grammatik, der Buße (Poenitentia) und der Castimonia geläufig. – Ebenfalls aus ma. Bildtraditionen herzuleiten ist die Sobrietasdarstellung eines Brüsseler Bildteppichs aus dem 2. V. 16. Jh. in der Wiener Gobelinslg. (Baldaß a.a.O. Bd. 1, Nr. 51): hier hält die E. eine Sanduhr, genau wie die Temperantia auf Ambrogio Lorenzettis Sieneser Rathausfresko (van Marle, Iconographie Bd. 2, S. 25 Abb. 27). – Auf einen Entwurf von Frans Floris – vielleicht die im Berliner Kk. erhaltene Zchg. Inv.Nr. 13 206 (Abb. 8) – geht der Sobrietasstich des Cornelisz. Cort (Hollstein, Dutch Fl. Engr. Bd. 5, S. 59, Nr. 238) zurück, auf dem die E. als junge, mit einem Diadem geschmückte Frau wiedergegeben ist; sie hält einen Schlüssel in der Hand und setzt ihre Füße auf einen Fisch, auch der Taubenflug im Hintergrund gehört noch zu den Attributen. Während diese Gestaltung vornehmlich auf die segensreichen Folgen der E. (Schlüssel) anspielt, schildert die wohl nach Entwurf von Peter Candid geschaffene Abstinentia im Antiquarium der Münchner Residenz (Abb. 9) mehr die bei Übung der E. sich einstellenden Ereignisse: eine thronende Frau tritt Ehrenbecher und Ehrenkette mit Füßen und hält ein Wasserglas und Ähren (= Wasser und Brot als Speise der Enthaltsamen) in der Hand; wenn das, was sie mit ihrer Linken ergreift, tatsächlich ein Stein ist, so wäre dieses Attribut auf ein Nachwirken der Psychomachie des Prudentius zurückzuführen. Die Liste der Beispiele aus dem 16. und frühen 17. Jh. ließe sich leicht vermehren, doch würden sich kaum Anhaltspunkte für eine kontinuierliche Überlieferung bestimmter Bildvorstellungen ergeben.
2. Ikonologien
Die im 16. Jh. erkannten ikonographischen Möglichkeiten der E.-Darstellung wurden dem 17. und 18. Jh. vornehmlich auf dem Weg über die ikonologischen Handbücher erschlossen. In diesen ist der Versuch gemacht worden, in die Vielfalt der E.-Begriffe und -Bildtypen ein System zu bringen; bei den Beschreibungen der verschiedenen E.-Personifikationen ging man, soweit das möglich war, von bestehenden Bildtraditionen aus, und wenn solche fehlten, entwarf man ein Bild für den betreffenden Tugendbegriff. Die Spezialisierung der E.-Begriffe in den Ikonologien hat die E.-Ikonographie wesentlich bereichert und außerdem die Möglichkeit fester Typentraditionen eröffnet.
Hier ist zumal die Iconologia des Ces. Ripa zu nennen, in deren erster illustrierter Ausgabe, Rom 1603, – wie in den meisten nachfolgenden – jedoch weder die Astinenza (S. 28), die Continenza und die Continenza militare (S. 90) noch die Sobrietà (S. 456) verbildlicht wurden. Alle E.-Personifikationen Ripas sind weiblichen Geschlechts und sollen, sofern sich dafür Anweisungen finden, einfach gekleidet sein. Die Astinenza trägt in der linken Hand delikate Speisen, mit der Rechten hält sie sich den Mund zu; „non utor ne abutar“ belehrt eine Beischrift. In mannbarem Alter soll die Continenza vorgestellt werden und „con bella grazia“ in der einen Hand ein Hermelin halten, das nur einmal am Tage frißt und deshalb so hellhörig für jede Gefahr ist, daß es nur schwer zu erjagen ist. Als Attribute der Sobrietà erscheinen bei Ripa – wie früher bei Floris – Schlüssel und Fisch, ferner ein Brunnen, aus dem klares Wasser heraussprudelt. Die militärische Disziplin (Continenza militare) wird durch eine Frau personifiziert, die einen Helm trägt und ein Schwert in der Rechten hält. Da Ripas Astinenza-Personifikation nach der Auffassung eines anonymen Übersetzers seiner Iconologia „nicht ohne einen Dollmetcher bleiben (kann)“, entwirft dieser einen Gegenvorschlag („Icanologia [!] oder Bilder-Sprache“, Nürnberg 1734, I, 3, S. 257–62).
3. 17. und 18. Jh.
Für die künstlerische Praxis wurden die Verzeichnisse und Anweisungen der ikonologischen Handbücher nur teilweise verbindlich. Sehr oft richtete man, gegenüber Fragen der Benennung wie vorgegebenen Bildtypen ziemlich gleichgültig, auch weiterhin E.-Darstellungen durch Attribute und Beischriften für den besonderen Verwendungszweck ein. Die so entstandenen E.-Bilder weichen derart voneinander ab, daß eine Gruppierung nach ikonographischen Typen wenig sinnvoll und vielfach auch nicht möglich ist. Aufschlußreicher ist es, bei der Ordnung der Beispiele des 17. und 18. Jahrhunderts von den Gesichtspunkten auszugehen, die am häufigsten die Wiedergabe von E.-Personifikationen veranlaßten. Hierbei können zwei Hauptgruppen unterschieden werden: E.-Darstellungen in der Profanikonographie (a) und solche in der religiösen Kunst (b). Gemeinsam ist beiden, daß die E. fast immer zusammen mit weiteren Tugenden abgebildet wurde, unterschiedlich sind jedoch die Tugendenlisten im ganzen (hierzu s. Tugenden) und die Sinngebungen des E.-Begriffes.
a) In der Profanikonographie spielt die E. im Bereich der humanistischen Sittenlehre und im Fürstenspiegel eine wichtige Rolle. Während jene im 16. Jh. häufiger zu E.-Darstellungen anregte, hat dieser im Zeitalter des Absolutismus die E.-Ikonographie am stärksten befruchtet. Der Tenor der Betrachtungen über die E. in den Fürstenspiegeln liegt zumeist in Ermahnungen, sich des Mißbrauchs weltlicher Ehre und Macht zu enthalten; Continentia soll vor Hoffart, Zorn, Begierde (concupiscentia) und sündiger Sinnenlust (voluptas) bewahren. Demgemäß spielen die den weltlichen Herren vor Augen gestellten E.-Begriffe gewöhnlich auf solche Vorstellungen an. Im Trierzimmer der Münchner Residenz ist z. B. Abstinentia Virtus und Fortuna zugeordnet, sie zieht ihre Hand von dem Tisch weg, auf dem Gold, Schmuck und Kostbarkeiten liegen (Ranuccio Pallavicino, I Trionfi dell’ Architettura nella sontuosa Residenza di Monaco, Augsburg 1680; dt. Übers.: Joh. Schmid, Triumphierendes Wunder-Gebäu usw., München 1685, S. 143). Daß in den illustrierten Fürstenspiegeln auch den religiösen E.-Personifikationen entsprechende Darstellungen vorkommen können, bezeugt u. a. das E.-Bild im Speculum Leopoldianum: hier hält Continentia das Zaumzeug (= Zügelung der Leidenschaften) in der einen, einen Lilienzweig (= Hinweis auf die Castimonia) in der andern Hand (P. Ioannis Kreihing S.J., Emblemata ethico-politica, Antwerpen 1661).
Bei einer zweiten Gruppe ist das E.-Thema in Verbindung mit der Gerechtigkeit gebracht. Diese überraschende Kombination läßt sich aus der Rechtspflege erklären: „Richter wie Urteiler haben nüchtern zu sein, die Teilnehmer an einem Gottesurteil zu fasten“ (Amira-Schwerin S. 66). Diese Verpflichtung wird den zur Rechtsprechung berufenen Fürsten durch E.-Bilder in Erinnerung gebracht. Geschah das in Gestalt einer E.-Personifikation, so bediente man sich der auch in der religiösen Ikonographie (zur Darstellung der E. im Fasten) gebräuchlichen Bildformel (s. u.); allenfalls wandelte man deren gewöhnlich sehr schlichtes Gewand ab: auf das Richteramt bezügliche Attribute und Kleidung traten an seine Stelle. Weitaus häufiger als Personifikationen wählte man, zur Schilderung der Zusammenhänge zwischen E. und Justitia, emblematische Darstellungen (in vielen Ausgaben der Emblemata des Andrea Alciati erscheint das E.-Thema unter dem Oberbegriff Justitia) und vor allem Fatti (s. a. Gerechtigkeitsbilder).
b) In der religiösen Kunst hat die E. andere Bedeutung. Abgesehen von den zu Tugendenlisten zusammengezogenen christlichen Sittenlehren, in denen verschiedene E.-Begriffe vorkommen, haben die Verbindungen mit kirchlichem Fasten und mit monastischen Vorstellungen die E.-Ikonographie beeinflußt.
Durch die Fastenzeiten ist „das Gesetz der E. allen Jahreszeiten auferlegt“ (Leo d. Gr., Sermo XIX, de Jejunio decimi mensis VIII: Migne, P. L. 54, Sp. 185ff.; Brevierlesung zum ersten Adventssonntag), im Fasten wird „in würdigster Weise das Opfer der E.“ gebracht, „wodurch wir Gott näher kommen, dem Teufel widerstehen und die lockenden Laster überwinden“ (Ders., Sermo XIII, de Jejunio decimi mensis II: ebd. Sp. 172f.; Brevierlesung zum dritten Adventssonntag). Ähnliche Betrachtungen kehren in den Lesungen der Fastenzeiten mehrfach wieder. Dieser enge Zusammenhang erklärt, warum Picinelli alle E.-Begriffe dem des „ieiunium“ unterordnen (s. o.) und warum Hieronymus Lauretus in seiner „Sylva allegoriarum sacrae Scripturae“, Köln 1701, S. 535, „abstinentia ab omnibus malis“ mit Fasten gleichsetzen konnte. Für die E.-Ikonographie resultiert daraus die Vergabe von Attributen an die E.-Personifikationen, die auf den Genuß karger Speisen und Getränke hinweisen. So ist z. B. der Wasserkrug in der Hand von E.-Personifikationen zu erklären; er ist mehr als nur eine Übernahme aus der Ikonographie der Temperantia. Beischriften – mit Vorliebe Zitate aus den Episteln des N.T.: etwa 1. Petr. 2, 3 (Abb. 11) oder Römer 12, 3 (Joh. Bapt. Enderle, Deckenmal. der Mainzer Augustinerkirche, 1772: Ernst Neeb, Mainzer Journal 1910, Nr. 215, 216 u. 219) – sind öfters zur Erläuterung den E.-Bildern beigefügt.
Eine eigene Gruppe bilden Personifikationen, die auf das 4. Kapitel der Regula Benedicti zurückgehen. Obwohl sie selten mit einem der geläufigen Begriffe für E. benannt sind – sie heißen z. B. „Mortificatio: oder die abtöttung“ (Konzept für Fresken in Niederaltaich: Ernst Guldan, Jb. d. Musealver. Wels 1957, 111) – dürfen sie doch auf Grund der beigegebenen Attribute als E. bezeichnet werden. Zahl und Art der Attribute sind nicht festgelegt, können aber stets auf einzelne „Werkzeuge der guten Werke“, von denen das genannte Kapitel der Regel handelt, zurückgeführt werden.
Gemeinhin stehen folgende Anweisungen im Vordergrund: „Dem Treiben der Welt sich entfremden“ (Abkehr von weltlicher Macht [= Krone und Zepter] und vergänglichem Tun [= Seifenblasen]); „Seine früheren Sünden unter Tränen und Seufzen täglich vor Gott im Gebete bekennen“ (Bußinstrumente: Dornenkrone, Geißel, Ketten, Bußgürtel u. dgl.); „Die Keuschheit lieben“ (Elefant); „Den Begierden des Fleisches nicht zu willen sein“ (Abweisen Amors und auf die käufliche Liebe hinweisende Szenen); „Nicht trunksüchtig, nicht eßsüchtig, nicht schlafsüchtig sein“ (verschiedene E.- und Temperantia-Attribute). Da, wie es im gleichen Kapitel heißt, „die Werkstätte aber, wo wir das alles mit emsigem Fleiße wirken sollen, ... das Kloster in seiner Abgeschiedenheit“ ist, kommen die meisten dieser Darstellungen in Klausurgebäuden vor (Abb. 10), ferner in Benediktiner-Klosterkirchen (Niederaltaich; Guldan a.a.O. Abb. 20 u. 22).
4. Lob der E.
Die meisten E.-Bilder sind Mahnung, diese Tugend zu pflegen. Gelegentlich fällt E.-Personifikationen aber auch die Aufgabe zu, vorbildliche Übung der E. auszuzeichnen.
Als Beispiel für die Charakterisierung einer historischen Persönlichkeit durch die Zuordnung einer E.-Darstellung sei das 1716ff. von Joh. Mich. Rottmayr geschaffene Gewölbefresko im Langhaus der Stiftskirche Melk genannt: Castimonia, mit einer Rute als Attribut, und Poenitentia erscheinen als „virtutes Benedicti“ (Inv. Österreich 3, S. 197).
B. Emblematik
In der Emblemata-Literatur sind zahlreiche Symbole in Verbindung mit E.-Begriffen gebracht worden; vgl. z. B. die von Cl. Minoem kommentierte Ausgabe der Emblemata von Andr. Alciati, Paris 1608, S. 120ff., oder Joachim Camerarius, Symbolorum et emblematum ex volatilibus et insectis desum(p)torum centuria tertia collecta, Nürnberg 1596, S. 71f., und ders., Symbolorum ... ex aquatilibus et reptilibus desumptorum centuria quarta coepta, Nürnberg 1594, S. 86f. Während gemeinhin die den Personifikationen beigegebenen Attribute eine bevorzugte Rolle in den Handbüchern der Emblematik spielten, sind diejenigen der E.-Bilder nur ganz beiläufig oder gar nicht behandelt, jedenfalls nicht unter den entsprechenden Begriffen. Auch hier ermöglicht die Unbestimmtheit der Benennungen keine bündigen Feststellungen: da es nicht möglich ist, bestimmte Symbole ausschließlich auf die E. zu beziehen, erübrigt sich eine Aufzählung der in der Emblemata-Literatur vorkommenden Beispiele. Das ist auch dadurch gerechtfertigt, daß häufiger bei der Aufschlüsselung der allgemeinen E.-Begriffe in verschiedene konkrete Fälle die E. und verwandte Tugenden unlösbar miteinander verkoppelt wurden (etwa: E.-Castitas; E.-Patientia; E.-Pudicitia; E.-Temperantia; E.-Sapientia; E.-Moderatio usw.).
C. Fatti
Diese Mehrdeutigkeit ist auch den als Fatti den verschiedenen E.-Begriffen zugeordneten Szenen eigen. Die bekannteste unter ihnen, die E. des Scipio Africanus, kann z. B. ebensogut auch als Beispiel für die Pudicitia und die Großmut dienen; Ces. Orlandi verweist in seiner erweiterten Ausgabe der Iconologia des Ces. Ripa, Perugia 1764ff., Bd. 2 S. 51, sogar für die Fatti zu Continenza kurzerhand auf Pudicizia. Eine Übersicht über weitere Szenen, die als Beispiele für den Begriff der Continenza erachtet werden konnten, gibt Wolfg. Stechow (The Art Bull. 27, 1945, 221–37, bes. S. 227f.). Orlandi (a.a.O. Bd. 1 S. 171ff.) hat für Sobrietà und Astinenza unter dem zuletztgenannten Begriff eine Reihe von Fatti aufgeführt: als Exemplum aus der Bibel die E. des jungen Daniel am babylonischen Hofe (Dan. 1, 1–17), aus der antiken Geschichte die vielgerühmte Fähigkeit des jüngeren Cato im Ertragen von Strapazen und schließlich als „fatto favoloso“ die – Tantalusqualen (diese etwas befremdliche Allegorisierung scheint erst durch Umdeutung des in der Regel als Beispiel für die Avaritia genannten Themas – vgl. hierzu Seznec S. 92 – und die Zuordnung zu einem Tugendbegriff entstanden zu sein). Das ausführlichste Verzeichnis von Fatti für E.-Begriffe bietet wohl die von Jos. Lange besorgte Ausgabe der „Florilegii magni seu Polyantheae libri XX“ des Domenico Nini Mirabellio (Lyon 1648, Sp. 19 bis 22, 625f., 2583f.).
Zu den Abbildungen
1 a und b. Nürnberg, G.N.M., Continentia und Sobrietas von der Eingangsseite des Johannesevangeliums im Codex aureus Epternacensis (Gesamtabb.: Peter Metz, Mchn. 1956, Abb. 90). Leicht vergrößert. Echternach, um 1020–30. Fot. Mus.
2. Hortus deliciarum, fol. 202 v, Enthaltsamkeit stürzt den Wagen der Luxuria um (Ill. nach Vers 407ff. der Psychomachie des Prudentius). Ende 12. Jh. Nach Straub-Keller Taf. 49 (Ausschnitt).
3. München, St.B. Clm. 17 403, fol. 6 v, Enthaltsamkeit und Entrückung des Elia (Wiederholung der Darstellung aus Clm. 13002, fol. 3 v). Bayern, 2. V. 13. Jh. Fot. Bibl.
4. Vorau, Stiftsbibl. Ms. 130, fol. 111 v, Enthaltsamkeit (Ill. zu Konrad von Vorau, Lumen animae). 1332 dat. Fot. RDK.
5. München, St.B. Cgm. 3974, fol. 84, Enthaltsamkeit und Intellectus (Ill. zu einem Traktat über Tugenden und Laster). Kolorierte Federzchg. Süddeutsch, zw. 1446 u. 1466. Fot. Bibl.
6. Wien, N.B. Cod. 2592, fol. 84 v, Personifikationen der erzwungenen Enthaltsamkeit, des falschen Scheines und der üblen Nachrede (Ill. zum Rosenroman). Paris, um 1370–75. Nach Jb. Kaiserh. 31, 1913/14, Taf. 10.
7. Brüssel, Bibl.roy. ms. 11 041, fol. 135 v, Enthaltsamkeit und Völlerei; Lazarus und der reiche Prasser (Ill. zur „Somme le Roi“). 1415 dat. Fot. Bibl.
8. Frans Floris (um 1516–70), Enthaltsamkeit. Federzchg. zu oder nach Kupferstich von H. Cock, 28,3 × 18,5 cm. Berlin, Kk. Inv.Nr. 13 206. Fot. Kk. Berlin.
9. Peter Candid (Entw.), Enthaltsamkeit. Deckengem. a. Holz. München, Antiquarium. Um 1600. Fot. Schlösserverwaltung München.
10. Joh. Georg Bergmüller (?), Enthaltsamkeit (Darstellung nach Regula Benedicti Kap. 4). Ochsenhausen, Deckenmalerei im Klostergang. Um 1740 bis 1750. Fot. Lala Aufsberg, Sonthofen, 74 048.
11. Joh. Georg Anwander, Enthaltsamkeit. Gewölbemal. im Lhs. der Pfarrkirche Prittriching Krs. Landsberg a. Lech. 1753. Fot. Walter Glock, München.
Literatur
1. Rich. Stettiner, Die illustrierten Prudentius-Hss., Bln. 1895. – 2. Adolf Katzenellenbogen, Allegories of the Virtues and Vices in Mediaeval Art (= Stud. of the Warburg Inst. Bd. 10), London 1939. – 3. Mâle II [194811]; III [19495]. – 4. van Marle, Iconographie. – 5. Knipping.
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