Divination

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englisch: Divination, prophecy; französisch: Divination; italienisch: Divinazione.


Gustav Friedrich Hartlaub (1955)

RDK IV, 90–99


RDK IV, 91, Abb. 1. Bamberg, um 1020.
RDK IV, 91, Abb. 2. Bamberg, um 1230.
RDK IV, 93, Abb. 3. Albr. Dürer, um 1496, Windsor.
RDK IV, 95, Abb. 4. H. Baldung Grien, 1529, München.
RDK IV, 97, Abb. 5. William Blake, 1804ff.

I. Begriff

D. ist Voraussage des Zukünftigen auf intuitivem, wenn nicht „okkultem“ Wege; vgl. Begriffe wie Ahnung, Sehergabe, Hellsehen, (über die normale künstlerische Phantasieleistung hinausgehende) Vision, Mantik, Orakel, Weissagung, Prophetie, Wahrsagen und Prognostikation. In der gesamten antiken Welt („Chaldäa“), auch bei Griechen (Orakelstätten), Etruskern und Römern gehörte sie zum religiös-kultischen Leben, bei den letzteren zur Staatsreligion. D. im engeren Sinn setzt eine Seelenverfassung, die zu seherischer Verzückung und Ekstase disponiert, bei dem Divinierenden voraus: Bewußtseinsveränderungen, welche entweder spontan bzw. autosuggestiv aus dem Inneren entstehen oder zusätzlich durch künstliche Reizmittel (z. B. Erddämpfe, die man einatmet, Spiegel und Kristalle, in die man starrt) gefördert werden. Als das besondere Temperament der so Veranlagten galt in der Antike, z. B. bei Aristoteles, bei den Ärzten, bei den Stoikern (Chrysipp, Poseidonios), bei Cicero [1], später bei Humanisten wie Marsilius Ficinus, Agrippa v. Nettesheim [4] das melancholische (nach Cicero, de divinatione I, 38, eignet dem Melancholiker „aliquid praesagium atque divinum“). Diese Komplexion wurde von den spätantik-arabischen und ma., z. T. auch von nach-ma. Astrologen dem Planeten Saturn zugeschrieben, welcher demnach seinen „Kindern“, das heißt solchen Personen, in deren Horoskop der Saturn stark gestellt ist (oder die sich meditativ auf seinen Einfluß einstellen), nicht immer nur ein niederes Los und Unheil beschert, sondern unter Umständen auch Genialität, die sie zu übernormaler Erkenntnis veranlagt (Cicero, Tusc. quaest. I, 33: „omnes ingeniosos melancholicos fuisse“). – In weiterem Sinn kann D. auch Wahrsagung aus vom Wahrsagenden unabhängigen, „zufälligen“ Naturgegebenheiten, die man in normaler Seelenverfassung nach Regeln befragt, bedeuten – also aus Gestirnsstellungen (Sterndeutung, Astrologie), Erdverwerfungen (ursprüngliche Form der Geomantie), aus dem Vogelflug, den Eingeweiden der Opfertiere, Loswürfen usw. In der Praxis können sich beide Möglichkeiten vermischen.

Als ideale Vertreter der divinatorischen Gabe wurden im Altertum u. a. betrachtet: die Göttin Athena Pronoia, die schicksalskundigen Parzen, Pan und die Nymphen, Orpheus, Manto, Kalchas, Tiresias, Kassandra, die Pythia, Sibyllen und Bakiden; im MA neben dem ägyptischen Mysterienhalbgott Hermes Trismegistos und dem keltischen Merlin auch der römische „Zauberer“ Virgil, weil er (IV. Ekloge) das Erscheinen des Heilands geweissagt haben soll, weiter die gleichfalls vom Christentum anerkannten Sibyllen (Erythräa, Delphica, Tiburtina, Cumäa usw.); in der Bibel sodann Adam, die a.t. Propheten, Elisabeth, die Prophetin Hanna, Johannes d. T. und der Johannes der Apokalypse (auf Patmos). – Divinatorisches Charisma ist auch häufig in der Heiligengeschichte (Birgitta von Schweden, Franz von Assisi u. a.), bei chiliastischen Propheten wie Joachim von Fiore. Von den scholastischen Personifikationen des MA umfassen die Tugend der Prudentia und das Temperament der Melancholie divinatorische Qualitäten (s. u.).

II. Darstellung in der bildenden Kunst

Bildende Kunst. Grundsätzlich wären zu berücksichtigen a) die künstlerisch adäquate Darstellung der divinierenden Personen, b) diejenige der überlieferten Divinationsgehalte, soweit die Gestaltungskraft der Künstler dem Wesen solcher Gesichte gemäß blieb.

Für die Darstellungen in der antiken Kunst sind die in ihrem Zusammenhang ungeklärten Reliefs des römischen Silberschatzes von Berthouville (Paris, Bibl. nat.) kennzeichnend. Sie zeigen sowohl orakelerteilende (priesterlich anmutende) wie sie befragende Personen; sie illustrieren zugleich eine Reihe von Arten der „D. artificiosa“ (Katoptromantie). Vergleichbare Motive in Vasenbildern, im Haus der Livia, in der Casa dei misteri (Pompeji) hat Delatte [9] zusammengestellt. Der physiognomische Ausdruck seherischer Verzückung fehlt in der antiken Kunst (bei dem „Seher“ vom Olympia-Giebel handelt es sich eher um ein Beobachten von Vorzeichen im Sinne von „D. naturalis“, als um ein ekstatisches Schauen des Unsichtbaren).

Dagegen entfaltet sich in der christlichen Ära (Mosaiken, Glasfenster, Wand- und Buchmalereien, kirchliche Portalplastik, Chorgestühlschnitzerei usw.) eine besondere Fähigkeit für die transzendierende Mimik und Gebärdensprache des Divinatorischen. Auf der symbolisch gebundenen Stufe des frühen MA dienten archaische Starrheit und Frontalität, zusammen mit dem Unendlichkeitsblick weit geöffneter Augen, solchen Ablichten. Im späten MA wurde der Ausdruck der ahnenden und schauenden Sensibilität mehr mit realistischen Mitteln erreicht, sei es im spätgotischen, sei es im antikisierenden Sinne. Später, in den Zeiten nachlassender Glaubensspannung und stärkerer Diesseitigkeit, wurde die Haltung konventioneller, mit einigen wesentlichen Ausnahmen.

Für Italien ist im geistlichen Bereich an die Sibyllen bei Giovanni Pisano, Quercia, Michelangelo zu erinnern (in ihre Reihe könnte man in Frankreich, wo sonst der Ausdruck für das Prophetische, Sibyllinische und ähnliche Seelenzustände gemäßigter und gesellschaftlicher zu bleiben pflegte, gewisse Werke des Claus Sluter in Dijon sowie seiner Nachfolger aufnehmen), dazu an Michelangelos Moses; dagegen hat Raffael die Sibyllen wohl zum Thema gewählt, ihre spezifische Erregung (vom „rasenden Munde“ der Sibylle hatte Heraklit gesprochen) jedoch abgedämpft.

Motive der künstlich erregten D. (kristallomantische und hydromantische Mittel) werden gelegentlich im allegorisch-mythologischen Genre der Renaissance verwendet: so im Bellini- und Giorgionekreis, vielleicht auch bei Tizian (sog. „Allegorie des Avalos“, Louvre; sog. „Himmlische und irdische Liebe“, Rom, Gal. Borghese, falls die Deutung als Liebesorakel richtig ist [17]), außerdem – seit Giotto – bei Darstellungen der Prudentia mit ihren die drei Zeiten andeutenden drei Gesichtern, ihrem mantischen Spiegel- oder Schalenattribut [15]. Anzeichen divinatorischen Erlebens finden sich gelegentlich auf Mythologien, Allegorien und Porträts des Giorgione-, Lotto- und Dosso Dossi-Kreises sowie bei Francesco di Giorgio [16].

Spanien: Subjektive Ergriffenheit, visionäres Außersichsein sowohl im Physiognomischen wie in der Gestaltung des Landschaftlichen finden sich bei Greco.

Deutsche und niederländische Kunst. Die chiliastischen Evangelistenbilder in den Reichenauer Handschriften (Evangeliar Ottos III. [RDK II 1451, Abb. 18], Bamberger Apokalypse [Abb. 1]) zeigen Momente der D.: aufgerissene Augen, ekstatische Gebärden, dazu die entsprechenden Inhalte der Schauungen. Im hohen MA steht die vom Volksmund mit Recht Sibylle genannte Elisabeth des Bamberger Doms wegen des erschreckenden Ernstes ihrer melancholisch divinatorischen Ergriffenheit selbst in Deutschland ziemlich allein (Abb. 2); die Vorbilder in der höfisch gesitteten Plastik Frankreichs kennen einen solchen Verismus nicht. Die Bildschnitzer der Spätgotik (Syrlin-Kreis, Nikolaus Gerhaert, Monogrammist HL u. a.), wie gewisse deutsche Maler um und nach 1500 zeigen, wenn es sich um Sibyllen, Propheten und ihre Gesichte, um Johannes auf Patmos und ähnliche Motive handelt, bisweilen auch im Bildnis, jenes erwähnte Vermögen für das Seherische. Zum Augenausdruck, Gebärden- und Mienenspiel kommen die eigentümlich visionär gefärbten Inhalte des Geschauten, wobei manche Maler selber zum Seher zu werden scheinen. Eine dem Visionscharakter kongeniale Gestaltungskraft zeigt sich beim jungen Dürer in der Apokalypse; fast beängstigend dann, das Gespenstische und Geisterhafte nicht ausschließend, bei Grünewald, dessen innere Verbundenheit mit den Revelationen der Heiligen Birgitta nachgewiesen ist; traumhafte Züge hat Albrecht Altdorfer. – Die dämonischen und angelischen Erfindungen des Hieronymus Bosch (Antoniusversuchungen [18, 19]) enthalten, vielleicht weil häretisch gefärbt, über das Herkömmliche und selbst die phantastische Lizenz hinausgehende subjektiv-divinatorische Merkmale. – Cranachs frühes Bildnis Cuspinians in Winterthur zeigt den Ausdruck faustisch-magischer „Natursichtigkeit“. Seherisch melancholisches Pathos besitzt Baldungs Prudentia-Personifikation in München mit ihrem mantischen Spiegel (Abb. 4). Dürers Allegorie der „Melencolia I“, in welcher die gesamte, Melancholie und Saturn betreffende Überlieferung verarbeitet ist, konnte neuerdings mit Agrippa v. Nettesheim in Verbindung gebracht werden [14], der auf Grund älterer Quellen drei Stufen saturnisch melancholischer D. unterscheidet (alle drei Stufen zusammen, wie sie je nach Vorherrschen von imaginatio, ratio und mens betont erscheinen, sind in Giorgiones „Drei Philosophen“, Wien, vereinigt [20]). – Eine wohl satirisch-humoristische Wiedergabe verschiedener klassischer D.-Arten ist Dürers Windsor - Zeichnung „Pupilla Augusta“ (Abb. 3); vgl. eine Handzeichnung mit verschiedenen „Sibyllen“ von dem Sienesen Francesco di Giorgio Martini (Siena, Bibl.) sowie G. Porta Salviati, Titelholzschnitt zu „Giardino dei pensieri“ (Kartenwahrsagebuch), 1540.

Seit dem 17. Jh. verschwindet in der Kunst, obschon die religiöse Ekstase ein hochbeliebter Gegenstand bleibt, das im engeren Sinne divinatorische Thema sowie seine spezifische Gestik und Physiognomik. Eine Ausnahme bildet Rembrandts sog. Faustradierung (mit Spiegelvision). – Divinatorisches Pathos und entsprechende Gehalte treten dann wieder um 1800 bei dem „Swedenborg der Malerei“, dem Engländer William Blake, auf, vor allem in seinen Illustrationen zu eigenen prophetischen Dichtungen (Abb. 5); weniger theosophisch gefärbt auch bei Heinr. Füßli. Divinatorischen Ausdruck zeigt auch C. D. Friedrichs Selbstbildnis (Zeichnung in Berlin).

III. Personifikation

Bei Cesare Ripa ist die D. eine Frau mit einer Laute in der Hand; über ihrem Kopf erscheinen verschiedene Vögel und ein Stern.

Ripa weist zur Erklärung der Gestalt auf Ciceros Unterscheidung der zwei Arten der D. hin: die eine von der Natur her, zu der die Träume und Gemütsbewegungen – durch die Vögel versinnbildlicht – gehören, und die andere von der Kunst her, die sich mit der Ausdeutung der Orakel, der Gestirne, der Eingeweide u. dgl. befaßt; hierauf weist die Laute als Instrument der Auguren und der Stern als Kennzeichen der Astrologie hin. Ripa warnt die Christen, sie sollen sich sorgfältig vor solcherlei Aberglauben hüten (Iconologia, Ausg. Venedig 1645, S. 162).

Zu den Abbildungen

1. Bamberg, St. Bibl. bibl. 140, fol. 3 r. Johannes’ Vision der sieben Leuchter, Reichenau, um 1020. Nach H. Wölfflin, Die Bamberger Apokalypse, München 1918, Taf. 2.

2. Bamberg, Dom, Elisabeth aus der Heimsuchungsgruppe, Ausschnitt. Um 1230. Fot. DKV (Walter Hege).

3. Albrecht Dürer, „Pupilla Augusta“. Federzchg. als Vorzchg. zu einem Stich, 25 × 19,4 cm. Um 1496. Windsor, Schloß. Nach Frdr. Winkler I, Taf. 153.

4. Hans Baldung Grien, Prudentia. Öl auf Holz, 83 × 36 cm. Dat. 1529. München, A. Pin. 5376. Fot. Bayer. St. Gem. Slgn. München.

5. William Blake, Jerusalem S. 57. Hochätzung. 1804ff. Nach Geoffrey Keynes, W.Blake’s Engravings, London o. J., Taf. 114.

Quellen. 1. Cicero, De divinatione (ed. A. Klotz u. a., Bibl. Teubneriana). – 2. Plutarch, De defectu oraculorum (ed. R. Flacelière, Paris 1947). – 3. Wilhelm von Auvergne († 1249), 6 Bücher De universo (Guilielmi Alverni opera, 2 Bde., Orleans 1674/75). – 4. Agrippa von Nettesheim († 1535), De occulta philosophia (1. hs. Fassung um 1509, Druck 1530/31; dt. Übers. in 5 Bdn., Neudruck Berlin 19214). –

5. Theophrastus Paracelsus, Philosophia sagax (ed. K. Sudhoff 1922ff.) und passim. – 6. Sog. „Divinationskataloge“ im 15. und 16. Jh. (Joh. Hartlieb, Buch aller verpotten kunst, 1456; N. L. Thomaeus, Tryphonius sive Dialogus de divinatione, Venedig 1524; Kaspar Peucer, Commentarius de praecipuis divinationum generibus, Wittenberg 1553; Joach. Camerarius, De generibus divinationum, 1576, u. a.).

Literatur

Zu Kap. I: 7. Erwin Rohde, Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. 2 Bde., Tübingen 1890–94 (9. u. 10. Aufl., hrsg. v. Otto Weinreich, Tübingen 1925): Bd. II Kap. 2 über „Begeisterungsmantik“ und „kunstmäßige Weissagung“ bei den Griechen. – 8. William R. Halliday, Greek divination, London 1913 (mit der ges. älteren Lit.). – 9. A. Delatte, La catoptromancie grecque et ses dérivés, Lüttich-Paris 1932 (mit Übers. von Wilhelm v. Auvergne u. Lit.). – 10. Bächtold-Stäubli Bd. 9, Sp. 358–441 („Weissager“, Peuckert). – 11. Pauly-Wissowa XIV, 1, Sp. 1258–88 („Mantike“, Th. Hopfner). – 12. G. F. Hartlaub, Das Unerklärliche, Studien zum magischen Weltbild, Stuttgart (1951). – 13. Arthur Hübscher, Die große Weissagung, Geschichte der Prophezeiungen mit Texten und Deutungen, München 1953.

Zu Kap. II: 14. Erwin Panofsky und Fritz Saxl, Dürers „Melencolia I“, eine quellen- und typengeschichtliche Untersuchung (Studien d. Bibl. Warburg II), Leipzig-Berlin 1923 (2. Aufl., mit Raymond Klibansky, unter d. Titel „Melancholie und Saturn“ bevorstehend; vorläufig zu vgl. das Melancholie-Kapitel bei Erwin Panofsky, Albrecht Dürer, Princeton 1948, Bd. I). – 15. G. F. Hartlaub, Zauber des Spiegels. Geschichte und Bedeutung des Spiegels in der Kunst, München (1951). – 16. Ders., Ein unbekanntes Hauptwerk des Francesco di Giorgio Martini von Siena, Pantheon 31, 1943, 174–81. – 17. Ders., Tizians „Liebesorakel“ und seine „Kristallseherin“, Zs. f. Kunst 4, 1950, 35–49. – 18. Wilh. Fraenger, Hieronymus Bosch. Das tausendjährige Reich, Coburg 1947. – 19. Ders., Die Hochzeit zu Kana. Ein Dokument semitischer Gnosis bei Hieronymus Bosch (= Kunstwerk und Deutung H. 6), Berlin 1950. – 20. G. F. Hartlaub, Zu den Bildmotiven des Giorgione, Zs. f. Kw. 7, 1953, 57–84.

Verweise