Discretio
englisch: Discretio(n); französisch: Discretio; italienisch: Discrezione.
Ludwig Heinrich Heydenreich (1955)
RDK IV, 80–83
I. Unterscheidungsvermögen
Die D. wird vom hl. Benedikt nach Joannes Cassianus (Collationes II, 4) als Mater virtutum bezeichnet (Reg. monast. Kap. 64, De ordinando abbate; ed. C. Butler, Freiburg i. Br. 1927, S. 120). Als solche wird die D. im Liber Scivias der Hildegard von Bingen in der 19. Vision („Die dreifache Mauer“) beschrieben und in der Wiesbadener Hs. (12. Jh.) dargestellt: eine sitzende dunkelgewandete Frauengestalt, auf die sich ein aus einer Wolke dringender, vielfach geteilter Lichtstrahlenglanz ergießt. Auf der rechten Schulter erscheint ein Kruzifix, in der rechten Hand trägt sie eine Art Blütenzepter; im Schoße hat sie „allerlei winzige Edelsteine“ (Wiesbaden, L.B. Nr. 1, fol. 161 v; Abb. L. Baillet, Mon. Piot 19, 1911, S. 109; Hiltgart Keller, Mittelrhein. Buchmalerei in Hss. a. d. Kreis der Hiltgart v. Bingen, Stuttgart 1933, S. 89ff. – Die Hs., 1945 nach Dresden verlagert, ist verschollen; nach einer modernen Kopie die Faksimiles der deutschen Ausgabe von Maura Böckeler, „Wisse die Wege“, Salzburg 1954, Taf. 27 u. S. 252). Ähnlich ist die D. in der „Canzone delle virtù e delle scienze“ von Bartolomeo di Bartolo im Bilde des Tugendbaums als gekrönte Frauengestalt dargestellt; im Schoße ihres Gewandes sind Blüten und Dornen ausgeschüttet (Chantilly, Mus. Condé; [1], Faksimile fol. 6 r). Der Titulus lautet: „Dicerno spin da belle roxe e fiuri / Perch’ o(m) no’ m lassi i primi e gli altri honori.“ Auf dem Titelblatt desselben Codex ist die D. noch einmal als „mater o. sal virtutum“ zusammen mit der Docilitas mater scientiarum, der Circumspectio (Umsicht) und der Intelligentia dargestellt ([1], Faksimile fol. 1 r). Da sonst im MA für gewöhnlich die Humilitas (s. Demut, Kap. V) als radix virtutum auftritt, kommt der Erscheinung der D. an ihrer Statt besondere Bedeutung zu (s. Tugenden und Laster).
Als spezifisch mönchische Tugend findet sich die D. im sog. Utacodex auf dem Bild des hl. Erhard (München, St. B. Clm. 13 601, fol. 4r; Abb.): mit der Beischrift „Discretionis temperamentum“ ist in der Ecke des Blattes eine drei Kinder unterrichtende Frau (Nonne) dargestellt, in der Rechten eine Rute haltend, neben sich einen Korb mit Früchten, um ihre Zöglinge zu bestrafen bzw. zu belohnen [2].
Auch in der patristischen Literatur des Ostens erscheint die D. als mönchische Tugend (im Kampf gegen das Böse): in der „Himmlischen Leiter“ des Johannes Climacus (um 600) bildet sie die 26. Stufe (Migne, P. G. 88, Sp. 632ff.); sie wird in den illustrierten Hss. (ab 11. Jh.) jedoch nicht personifiziert dargestellt, sondern als Eigenschaft versinnbildlicht, die dem Strebenden durch einen Lehrmeister übermittelt oder von Gott selbst – durch Überreichen einer Schriftrolle – verliehen wird (J. R. Martin, The Ill. of the Heavenly Ladder of Joh. Climacus, Princeton 1954, passim, bes. S. 8f., 38f. und Abb. 56, 58; s. a. Tugendleiter).
II. Discrétion, Verschwiegenheit
Vom späten MA an beginnt die D. als weltliche Tugend in verschiedenen Bedeutungen aufzutreten (s. Tugenden und Laster). Unter den Herrschertugenden, die König Robert von Anjou umgeben, erscheint sie in der Titelminiatur der Bibel des Nicolò de Alifio (14. Jh., Mecheln, Seminarbibl., fol. 1); als Attribute hält sie ein Schwert und eine Spindel (Abb. R. Maere, Revue de l’Art chrét. 59, 1909, 287). – Als eine der Liebestugenden ist sie in den „Documenti d’Amore“ des Franc. di Barberino (Hs. des 14. Jh., Rom, Vat. Cod. Barb. lat. XLVI, 18, fol. 61 r, und 19, fol. 50 r; Franc. Egidi, L’Arte 5, 1902, Abb. S. 16) sowie im Brev. d’Amor des Ermengaut de Bézier (M. 14. Jh., Wien, N.B. Cod. 2564, fol. 237 v) – hier unter der Bezeichnung RETENEMENT – dargestellt (Beschr. Verz. VIII, N. F. 7, 2 [1936], S. 143, Taf. 44). Im gleichen Sinne ist auch die Darstellung der D. im Roman der Christine de Pisan zu verstehen (15. Jh., Brüssel, Bibl. roy. Nr. 9392, fol. 54 v; J. van den Gheyn, Christine de Pisan. Reprod. de miniatures de la Bibl. roy. de Bruxelles, Brüssel 1913, Taf. 51; [3] S. 94).
In der Renaissance und im Barock verändert sich der Sinn des Begriffs zur „Besonnenheit“ hin. Bei Ripa ist die D. als Frauengestalt beschrieben, die ihr Haupt neigt, um ihr Verstehen (compassio) auszudrücken. In der Rechten hält sie ein Lotblei; auf ihren Knien liegt ein Kamel, das (nach Plinius) mit seiner discreta natura sich nur soviel Last aufladen läßt, wie es bewältigen kann (C. Ripa, Iconologia, Venedig 1645, S. 157f. mit Abb.).
Die Wandlung des Begriffs der D. zur heutigen Bedeutung der Verschwiegenheit hat sich in den romanischen Sprachen erst spät (17./18. Jh.) vollzogen (E. Littré, Dict. de la langue française, Paris 1863, Bd. I, S. 1179f.). In dieser Sinnbestimmung begegnet die Darstellung der Discrétion als Frau reifen Alters, die mit ihren Händen Augen und Mund verdeckt (s. Verschwiegenheit).
Zur Abbildung
München, St. B. Clm. 13 601, fol. 4 r. Evangelistar der Äbtissin Uta von Niedermünster, Bild des hl. Erhard, vergrößerter Ausschnitt l. u. Ecke. Regensburg, 1. V. 11. Jh. Fot. Marburg 101 579.
Literatur
1. Leone Dorez, La Canzone delle Virtù e delle Scienze di Bartolomeo di Bartoli da Bologna, Bergamo 1904. – 2. Alb. Boeckler, Das Erhardbild im Utacodex, in: Studies in Art and Literature for Belle da Costa Greene, Princeton 1954, S. 219–30. – 3. van Marle, Iconographie II, S. 82 u. 94.
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