Christus im Elend (Christus in der Rast) und Herrgottsruhbild
englisch: Christ in distress; französisch: Christ de Pitié; italienisch: Cristo in pietà.
Gert von der Osten (1953)
RDK III, 644–658
(C. = Christus; C. i. E. = Christus im Elend.)
I. Christus im Elend
1. Allgemeines
a) Begriffsbestimmung
Als C. i. E. oder C. in der Rast, auch C. in der Ruhe, wird das fast ausschließlich der Plastik gehörende Bild des hockenden, nackten C. bezeichnet, der meist mit einem Lendentuch bekleidet ist. Er ist, nächst dem Weltenrichter, das bedeutendste Sitzbild C. Er tritt von vornherein in zwei verschiedenen Typen auf, die aber mitunter in Wechselwirkung gestanden zu haben scheinen und in ihrem Gehalte verwandt sind: 1) C. stützt das Haupt in eine Hand und macht dadurch – im Bezirk des Natürlichen betrachtet – eine Gebärde des Ermattens, auf der Ebene der Gesten und Zeichen aber die uralte Trauergebärde. 2) C. kreuzt die Arme oder Handgelenke nach unten oder auch nach oben und vollzieht die Gebärde des Gefesseltseins, ohne stets auch die Fessel zu tragen (mitunter wird sie durch einen heute verlorenen Strick gebildet gewesen sein; aber es gibt auch Denkmäler, die zweifellos nie die Fessel zeigten). Er hält sehr oft die heute meist verlorenen Zeichen der Geißelung: Rute und Peitsche, seltener auch die Zeichen der Dornenkrönung: Rohr, Kalmusstaude etc., in den Händen. 3) Späte, kaum mehr typisch werdende Formen lösen diese Typengehalte vom A. 16. Jh. an auf. Ein bei vielen Bildwerken mitschwingendes Motiv der Entkleidung Christi wird selten zum Hauptthema.
Es handelt sich also, im Gegensatz zu dem „ewigen“ Bild des Schmerzensmannes, der die Gesamtheit der Passion anhistorisch dadurch umfaßt, daß er lebend und leidend die Todeswunden trägt, um eine „zeitliche“ Darstellung des Heilandes vor der Kreuzigung. Trotzdem ist wohl (in Abänderung von [6]) die Bezeichnung C. i. E. der gebräuchlicheren des C. in der Rast bzw. in der Ruhe vorzuziehen. Denn sie drückt die inbegriffene Gesamtheit der Passion von der Geißelung bis an den Fuß des Kreuzes vollkommener aus und beugt zugleich einer Verwechslung mit dem wesensverschiedenen Herrgottsruh-Bild (siehe II) vor.
b) Datierung
Der Zeitansatz des C. i. E. wird erschwert durch den Mangel an datierten und datierbaren Denkmälern, sowie oftmals durch deren geringe Qualität. Daher wird bisher, wo überhaupt, Entstehung im E. 15. oder gar A. 16. Jh. angenommen, wogegen schon die große Menge der aus dieser Zeit erhaltenen Exemplare spricht.
Zudem ist im Braunschweiger Dom ein Bildwerk des Trauernden von nicht geringer Qualität auf uns gekommen (Abb. 1), das noch dem späten 14. Jahrhundert angehört, und in der minderen Arbeit zu Kemnade (Oberweser), deren eigentliche Zeitstellung schwer zu beurteilen ist, sowie in dem Bildwerk des „Gefesselten“ im Landesmuseum Münster (A. 15. Jh.) ist noch etwas von dem Stil des späten 14. Jh. spürbar. Beide Typen des C. i. E. dürften also noch in der 2. H. 14. Jh. entstanden sein.
c) Lokalisierung und Ausbreitung
Wo seine Urbilder zu lokalisieren seien, ist noch ungewiß. Mâle [4], der Stücke vor 1475 nicht kennt, hält den C. i. E. für eine eigentümliche Hervorbringung der französischen Kunst. Dagegen spricht die Vielzahl der Denkmäler in Deutschland. Auch in Nord- und Osteuropa finden sich, zumal in Polen, Litauen, Eilland, auch Siebenbürgen, ja sogar im ehem. Gouvernement Perm (Serebrennikoff, Die Permsche Holzskulptur, Perm 1928; russisch), zahlreiche Verwirklichungen meist volkstümlicher Art von geringer Qualität. Zu dieser Verbreitung kann die Graphik erst spät, nicht vor 3. V. 15. Jh., beigetragen haben. Hingegen scheint der C. i. E. im Gegensatz zum Herrgottsruhbild in Italien kaum vorzukommen (trauernd erscheint er auf der Berliner Medaille des Sperandio), für Spanien sei das Beispiel in Legroño, S. Maria de la Redonda (J. Braun, Altar II, S. 452) genannt. Im ganzen deutet der erhaltene Denkmälerbestand, soweit er sich heute übersehen läßt, auf Entstehung im niederdeutschen Raum [12]. Auch die typengeschichtliche Betrachtung dieses ikonographisch bisher kaum erörterten Bildwerkes bekräftigt diese Lokalisierung und diesen Zeitansatz.
2. Ikonographische Ableitung
a) Kreuzbereitung
An dem Erdhügel oder dem Stein (Grabstein?), auf welchem C. i. E. meist sitzt, erscheinen mitunter Totenschädel, Gebein [4] oder auch die INRI-Tafel (Stuttgarter Trauernder aus Donauwörth), oder es tauchen andere Anzeichen des Kalvarienberges auf, zumal das Kreuz, auf welchem C. sitzt, oder das neben ihm steht: deutscher Holzschnitt in Paris, Bibl. nat. (P. A. Lemoisne, Les xylographies etc. II, Paris 1930, Nr. 126). Mâles Bezeichnung: Christ assis sur le Calvaire attendant sa mort, ist daher jedenfalls für die Spätzeit zutreffend, wenngleich nicht umfassend genug. Sie wird bestätigt durch Darstellungen der Kreuzbereitung [4] oder Kleiderverteilung, in denen C. i. E. in der beschriebenen Weise oder auch auf dem Kreuzstamme (dann meist in der Kreuzmitte) sitzend erscheint und in einen Gegensatz gestellt wird zu dem lauten Treiben der Henkersknechte, welche Löcher in das Kreuz bohren oder um seinen Mantel würfeln und streiten.
Beispiele: „Goldene Tafel“ aus Lüneburg, Hannover, L. M. (Abb. 4); „Horenaltar“ des Lübecker Doms; Altar in Oberstein (sämtlich A. 15. Jh.); Epitaph des Rotger von Schunde († 1431) in Münder, Dom, Herrenfriedhof; Passionsaltar aus Benediktbeuern; Wandgemälde zu St. Katharina in Hall (beide M. 15. Jh.); Hochaltäre in Blaubeuren und in Mediasch, Siebenbürgen (V. Roth, Dt. K. in Siebenbürgen, 1934, Abb. 142); Hochaltäre des Doms zu Eichstätt und der Nikolaikirche in Stralsund; Stich des I. van Meckenem (G. 90); Holzschnitte der Ulmer „Gaistlichen Ußlegung“ und der Bibl. nat. in Paris (Lemoisne a. a. O. I Nr. 37); Holbeins d. Ä. Tafel in Donaueschingen (Abb. 3); Dürers (?) Hdzchg. des großen Kalvarienberges (W. 317).
Die Rast auf dem Kalvarienberge kann wohl auch in die Kreuzannagelung geradezu übergehen. So sitzt im Titelbild des mit dem Buche Hiob beginnenden dritten Teils von Luthers Altem Testament deutsch (Wittenberg, Lotter, 1524) C. i. E. auf dem Kreuzstamme, wird aber soeben von den Henkern an den Armen gepackt, um ans Kreuz geheftet zu werden. Die letzte Rast ist vorüber [9].
Letzte Rast darf auch die szenische Reliefdarstellung des Gnadenbildes Herrgottsruh in der gleichnamigen Wallfahrtskirche zu Friedberg bei Augsburg, wohl um 1496, genannt werden – doch wirken hier sowohl die Henkersknechte als auch Johannes und die Frauen wie erläuternde Beigaben; von einer Kreuzbereitung kann nicht gesprochen werden.
b) Andachtsbild
Die Szene der Kreuzbereitung tritt also, was die Priorität angeht, vielleicht in Konkurrenz mit dem isolierten Bildwerk des C. i. E. Doch ist sie vor 1400 nicht nachzuweisen. Auch die eindrucksvolle Prägnanz der beiden Typen und ihr andachtsbildhafter Zug läßt vermuten, daß der plastisch-isolierte C. i. E. vorherging.
Er würde damit zu der geschichtlich zweiten Welle von Andachtsbildern gehören, die sich vor und um 1400 ausbildeten, ohne doch meist die weite Wirkung der „ersten“ Andachtsbilder zu erlangen. Der C. i. E. ist eines der verbreitetsten unter ihnen. Man trifft ihn vor allem als isoliertes Bildwerk, spät mitunter auch im Altarzusammenhang und in Epitaphien, sodann unter den Andachtsblättern des spätmittelalterlichen Holzschnittes, während er in das „kleine Andachtsbild“ neuerer Zeit nicht übergegangen zu sein scheint. Er wäre somit, entsprechend der Anweisung des Pseudobonaventura an den Andächtigen (Meditationes vitae Christi, ed. Joh. Jak. Hansen, Paderborn 1896, passim), sich den Heiland in einem Ruhezustand zwischen der einen und der anderen Marter der Passion vorzustellen, in engem Zusammenhang mit dem Bilddenken der Mystik entstanden. So kann er aber ebensowohl in der „derelictio“ (Thomas von Kempen, Orationes et meditationes de vita Christi I, 2, 6. – Opera omnia, ed. M. J. Pohl, V, Freiburg 1902, S. 68ff.) nach der Flucht der Apostel, vor und nach der Geißelung, im Zusammenhang der Dornenkrönung und Verspottung, in einer Rast auf dem Kreuzweg, wie endlich in der letzten Rast auf dem Kalvarienberg vorgestellt werden. (Demnach enthält der C. i. E. zumal die Leidenserfahrungen, denen in den kanonischen Offizien die Tagzeiten der Terz und der Sext entsprachen, und jedenfalls nicht die späteren; er darf daher nicht – mit Künstle S. 476ff. – unter die Vesperbilder gezählt werden). In den Texten der süddeutschen Mystiker wie in den Berichten über bildhafte Schauungen zumal der Dominikanerinnen des 14. Jh. wird allerdings keine genaue Parallele zu unserer Darstellung deutlich (am nächsten wohl: Seuse, Büchlein der Ewigen Weisheit I, 15; – ed. Bihlmeyer, S. 259f. – Vgl. [6] S. 20). Doch aus Gründen des Ortes, z. T. auch der Zeit ist eine volle Übereinstimmung mit diesen Aufzeichnungen auch nicht zu erwarten.
c) Hiob im Elend
Vor allem aber hat der C. i. E. noch eine Vorgeschichte, die das Bildwerk in einer ganz anderen, gar nicht andachtsbildhaften, sondern theologisch-typologischen Beziehung zeigt. Sicherlich ist der erste, wahrscheinlich auch der zweite Typus des C. i. E. bei seiner Entstehung angeregt worden von der Darstellung des Hiob im Elend [9; 12; 13].
Zum einen ist es die schon im 12. Jh. geläufige Darstellung des trauernden Hiob, der allein „in sterquilinio“ sitzt und sich mit der Scherbe (nach Hiob 2 v. 8) den Eiter von den Schwären schabt (ihnen entsprechen beim C. i. E. die Male der Geißelung), wie er z. B. in der typologischen Hs. des 12. Jh. in München, clm. 14 159 erscheint (A. Boeckler, Regensburg-Prüfeninger Buchmalerei des 12. und 13. Jh., München 1924, S. 40, Abb. 36), in einer Anzahl Beispiele auch sonst belegt ist und in der wohl mittelrheinischen Handschrift um 1260 von Gregors Moralia in Hiob zu Herzogenburg (Hanns Swarzenski, Die lat. illum. Hss. des 13. Jh., Berlin 1936, S. 105, Abb. 287) vorkommt. Diese auch künstlerisch wirksame praefiguratio Hiobs ist in dem Text der Münchener Hs. theologisch nahezu schon formuliert.
Zum anderen ist es die häufigere Darstellung Hiobs, wie er von seinen Freunden nicht verstanden, von seinem Weibe geschmäht wird (mehrfach in der mittelbyzantin. Buchmalerei; Kapitell in Avignon, Mus. Calvet, aus N.D.-des-Doms; nochmals die Herzogenburger Hs.; Doberan, Hochaltar, A. 14. Jh., H. Wentzel, Lübecker Plastik, Berlin 1938, Nr. 14, Taf. 71). Diese Darstellung umfaßt das stercore-Bild des bloßen Hiob im Elend, fügt zu der (häufigen) Trauergebärde der einen Hand eine abwehrend-bittende der anderen hinzu und wird mitunter erweitert durch eine Darstellung des Teufels, welcher Hiob mit den Schwären schlägt. Ohne Trauergebärde erscheint dieser Bildgehalt denn auch im Heilsspiegel und – spät – in der 50blättrigen Holzschnittausgabe der Armenbibel als Gegenbild zur Geißelung Christi. Am Doberaner Kreuzaltar (um 1370) ersetzt er sogar als einziges alttestamentliches Bild innerhalb der Passionsfolge die Geißelung, erscheint mit nach unten gekreuzten Armen und dem Antlitz Christi.
Vornehmlich seiner Abkunft von der Hiob-Ikonographie also scheint das Bild des C. i. E. seine thematische Weite zu verdanken. Hierher rührt das schmerzvolle Nachsinnen und Vordenken des Trauernden wie des Gefesselten; hierher kam vermöge der spät-m.a. Typologie seine Beziehung auf die Geißelung Christi, die wohl ebenso wichtig war wie der dem Bilde innewohnende Gehalt der Kreuzbereitung. Obgleich es sich bei der Masse der spät-m.a. Darstellungen zweifellos um Christus im Elend handelt, scheint er mitunter aber auch, bis ins 16. Jh. hinein, in der Verehrung mit dem Hiob im Elend gleichgesetzt worden zu sein [12].
3. Typen
a) Trauernder C.
Der trauernde C. i. E. tritt mit der frühesten erhaltenen Verwirklichung in Braunschweig (2. H. 14. Jh. – Abb. 1) sogleich mit großer typengeschichtlicher Prägnanz auf. Trauergebärden sind bei Christusdarstellungen sonst selten [13]. Sie erscheinen im 14. Jh., recht einzigartig, u. a. beim Einzug in Jerusalem der Heilsspiegel-Hs. Clm. 146 und bei den seltenen Darstellungen des trauernden Schmerzensmannes [6]. Da dieser zumeist im Mantel ist und seine Gebärde als Gestus, nicht aber zugleich als Stützmotiv vollzieht, ist ein Zusammenhang mit unserem Typus unwahrscheinlich, wofür auch die verschiedenartige regionale Ausbreitung spricht.
So ist denn die unmittelbare Abkunft von dem bereits feststehenden Typus des trauernden Hiob im Elend weitaus am wahrscheinlichsten. Die Übereinstimmung geht so weit, daß sogar Nebenmotive der Haltung, zumal das hochgezogene Knie, bei vielen Bildwerken wiederkehren. Schon in Braunschweig zeigt die geschundene Haut mit den dick vortretenden Adern die spezielle Analogie zu dem schwärenbedeckten Hiob.
Verwirklichungen der ersten Hälfte des 15. Jh. sind noch selten – so die in Kemnade –, mögen aber in der Masse des ungesichteten, in volkstümlicher Verehrung stehenden, durch häufige Neufassung oft verderbten Materials noch verborgen sein. Vom 3. V. 15. Jh. an gibt es dann zahlreiche Beispiele, zumal im weiten Umkreis rings um den Harz, auch in Westfalen und am Niederrhein, in Sachsen und Schlesien [12], selten erst in Süddeutschland (so das elsässische (?) in Frankfurter Privatbesitz, Schmitt-Swarzenski Nr. 108). Bezeichnend für die typengeschichtliche Gebundenheit erscheint dieselbe Form seitenvertauscht als volkstümlicher Holzschnitt (Lemoisne Nr. 126). In dem seltsamen Schlußblatt der Ulmer „Gaistlichen Ußlegung“, um 1470, (Muther, Buchillustration, Taf. 62) sitzt C. i. E. im (Lebens-?) Baume, von dem die Marterwerkzeuge herabhängen. Eine freie Abwandlung ist die Dürer zugewiesene Karlsruher Tafel. Auch der trauernde C. erscheint mitunter im Rahmen der Kreuzbereitung oder des Kalvarienberges: die genannten Beispiele in Hall, Donaueschingen (Abb. 3), Eichstätt, Friedberg, sowie der Benediktbeurer Altar gehören hierher. Doch erscheint der trauernde C. hier wie ein Stellvertreter des gefesselten C. i. E.; auch darin zeigt sich die fortdauernde Verwandtschaft der beiden Typen.
Außerdem verbreitet sich von etwa der Mitte des 15. Jahrhunderts an eine Nebenform mit parallel gestellten Beinen, etwa gleichhohen Knien, an der insbesondere der Ausdruck der Geißelung angetroffen wird: Erfurt, Angermuseum (aus dem ehem. Peterskloster?); Breslau, Bernhardin-Kirche, Ratskapelle; Jena, Museum; unter dem Kreuz sitzend in der Hs. der Kölner Kreuzbrüder, Berlin, St. Bibl., cod. lat. 148, fol. 101. Das großartigste Denkmal dieser Art ist wohl Leinbergers (?) Skulptur in St. Nikola zu Landshut, die mehrfach wiederholt worden ist. Dürer (?) zeigt sie in der Kreuzbereitung des großen Kalvarienbergs (W. 317), während Dürers berühmtes Titelbild zur kleinen Holzschnitt-Passion (1511) durch die Nägelmale zum Schmerzensmann erweitert ist, ohne doch im übrigen von unserem Typus abzuweichen. Seitenvertauscht zeigt ihn H. S. Behams Holzschnitt zu Luthers Betbüchlein, 1527 (Geisberg, Einbl. Holzschn. 343).
Schließlich erscheint der C. i. E. in der M. 15. Jh. auch mit gekreuzten Unterschenkeln und versinnbildlicht so zugleich das Gefesseltsein (siehe 3 b): Benediktbeurer Kreuzbereitung; Bildwerk in Kalkar, Pfarrkirche; Freiberg, Museum (Peter Breuer); am großartigsten vielleicht in H. Holbeins d. J. Berliner Hdzchg. (1519), wo durch die unterstützende Gebärde der freien Hand bei hoher Kompliziertheit des Aufbaus wohl die größte Konzentration unseres Bildtypus erreicht worden ist. Ähnlich das Basler Blatt des Urs Graf von 1525 (M.G. 59).
Doch herrscht auch im 16. Jh. neben diesen beiden Abwandlungen der von vornherein festgestellte Haupttypus des Trauernden vor, so in Leinbergers späterem Bildwerk in Berlin, D. M. (Abb. 2). Auch in neuerer Zeit ist er oftmals verwirklicht worden. Beispiele: Erfurt, St. Severi, 1576; Zillingtal (Bez. Eisenstadt) 1663, mit Mantel; Daugendorf (Krs. Riedlingen) E. 17. Jh.; Unter-Sandau (Bez. Marienbad) 1703; Eichstätt, Domkreuzgang, Epitaph Pfürdt † 1726, im Kerker sitzend, von den Leidenswerkzeugen umgeben; München, Priv.Bes., von Christian Jorhan, M. 18. Jh.
b) Gefesselter C.
Der gefesselte C. i. E. scheint unabhängig von dem trauernden etwa gleichzeitig entstanden zu sein. Vorbild für seine bezeichnende Gebärde, die Kreuzung der Handgelenke (auch der Hände oder Unterarme) nach unten, manchmal auch nach oben (Votivtafel 1490 im Lübecker Mus.), können selbstverständlich alle Darstellungen des gefesselten C. überhaupt gewesen sein. Doch fällt auf, daß gerade am Anfang viele Beispiele ohne Fessel anzutreffen sind, bei denen sie auch (Gemälde!) in den meisten Fällen niemals dagewesen sein kann. Eine Beziehung zu der Gebärde gekreuzter Arme beim Hiob im Elend (Doberaner Kreuzaltar) dürfte also auch bei diesem Typus bestanden haben. Dadurch erweist sich, ähnlich wie beim Schmerzensmann [6], die Armkreuzung als eigentliche Gebärde: ihre drastische Intensität nimmt durchaus zu, wenn der Zwang der Fessel fehlt; der Zwang des göttlichen Erlösungswillens wird in diesem freiwilligen Vollzug um so stärker zum Ausdruck gebracht. In der 2. H. 15. Jh. wird die Fessel häufiger, bei den französischen Beispielen erscheint sie meistens; oftmals tritt eine Fußfessel hinzu, doch findet sich daneben auch die bloß sinnbildliche Gebärde der gekreuzten Unterschenkel (Epitaph in Münster).
Im ganzen ist also das Gefesseltsein des Herrn das besondere Thema dieses zu streng symmetrischem Aufbau neigenden Typus. Er ist um einen Grad geschichtlicher als der trauernde. Er ist denn auch der Typus der Kreuzbereitung – mit Ausnahme der unter a) genannten Beispiele. Gelangen wir bei ihm auch nicht in die Zeit vor 1400 zurück, so scheinen doch die isolierten Bildwerke in Königsberg (Neumark), Marienkirche, und im L.Mus. Münster (aus Osnabrück) den Formcharakter des späten 14. Jh. bewahrt zu haben. Aus der 1. H. und M. 15. Jh. dann die Denkmäler in Preetz, Parchim (Vertrag 1421?), Ratzeburg, Bücken, sowie weitere von Sten Karling [10] genannte Beispiele in Schweden und Estland.
Gegen Ende des Jahrhunderts hin nimmt die Zahl der Verwirklichungen ungemein zu. Dies ist der beliebteste Typus. Jetzt erscheinen süddeutsche, niederländische (vgl. [7] und Marguerite Devigne, La sculpture mosane, 1932, Taf. 37) und französische [4] Beispiele. Das Utrechter Museum verwahrt ein plastisches Denkmal, A. 16. Jh., an dem zwei kleinere Knechte sich um den am Boden liegenden Mantel Christi raufen und so in einer Abbreviatur die alte Beziehung zur Kreuzbereitung erhalten. Es scheint sich hier um ein vorzüglich niederländisches Motiv zu handeln, wie die beiden Bildwerke – ohne die Knechte, aber mit dem vom Sitz herabgleitenden Manteltuch – in Münchner (H. Wilm, Got. Holzfigur, Stuttgart 19402, Abb. 120) und belgischem Priv.Besitz [7] bezeugen. Um dieselbe Zeit scheint andererseits gerade diesem Typus manchmal die Geißelsäule mit den Leidenswerkzeugen beigegeben worden zu sein: Billerbeck (Westfalen); Horst, Noord-Limburg; Aldegund, Krs. Zell, Mosel, 1522. Doch sind diese Verbindungen – wie die im Braunschweiger Dom – nicht immer ursprünglich. Das Andachtsbild C. i. E. hat nur losen Zusammenhang mit diesen summenhaften Zeichen der Passion gewonnen.
Unter den bedeutenderen Denkmälern dieses Typus ist der Falckh-Epitaph († 1519), Wien, Schottenstift, zu nennen (K. Oettinger, Anton Pilgram, Wien 1951, Abb. 143). Sodann verwirklicht 1522 Dürer ihn in seinem „Selbstbildnis“ – Christus (W. 886), während das ganz ähnliche Gemälde in Pommersfelden zugleich die Wunden des Schmerzensmannes zeigt. Beispiele aus neuerer Zeit z. T. auch für protestantischen Gebrauch sind: Engelbrechtsen, Leidener Kreuzigungsaltar (Kreuzbereitung); Kassel, Landesmuseum (ehem. Nürnberg, G. N. M. Josephi Nr. 275. – Abb. 6), um 1600; Erfurt, Allerheiligenkirche, 1619 (auf dem Sarg sitzender Schmerzensmann als gefesselter C. i. E. [6]); Gassen, Krs. Sorau, 1735.
In seltener Verbindung mit der Schmerzensmutter erscheint der C. i. E. in Holbeins d. Ä. Bild zu Hannover (Abb. 5): in die Typik der österreichischen Tafel des D.M. Berlin (vgl. Beweinung, Erbärmdebild, RDK II 471) eines C. in der Trauer ist unser zeitliches Andachtsbild eingefügt.
c) Sonder- und Spätformen
Schließlich gibt es Formen des C. i. E., deren Hauptinhalt weder das Motiv der Trauer noch das der Fesselung ist, die ihrerseits aber auch keine typische Geltung mehr erlangt haben.
Das Bildwerk aus dem Lübecker Hl.-Geist-Spital (Mus.), schwerlich nach 1440 entstanden, macht die Entblößtheit C. zum Gegenstand: das Lendentuch fehlt, die Linke verbirgt die Scham; die Rechte hielt ehemals wohl den Staupbesen.
Die meisten freien Verwirklichungen des C. i. E. aber sind späterer Zeit. Ihre schlaffen Gliedmaßen bezeugen die Ohnmacht des Gemarterten: Steinfigur in Münster, Diözesan-Mus.; Hopkorf-Epitaph in Magdeburg, 1625; oder sie zeigen eine Verbindung mit anderen Typen des leidenden C.: 1) mit dem Schmerzensmann: die Steinfigur aus Lünen in der Kölner Kartäuser-Kirche; der Weiditz zugeschriebene „Ecce homo“ (Geisberg, Einblatt-Holzschnitt 1501) und das Bildwerk in Hattstedt (Zs. d. Ges. für schleswig-holstein. Gesch. 61, 1933, S. 191ff.); 2) mit der Geißelung das kleine Elfenbeinwerk des B. N. M. (Kat. Berliner Nr. 328). Übergangstypen zur Dornenkrönung sind am ehesten unter die Herrgottsruhbilder zu rechnen.
II. Herrgottsruhbild
Das Herrgottsruhbild, die sitzende Gestalt des gefesselten oder ungefesselten C. im Mantel, ist offenbar ohne engeren Zusammenhang mit dem C. i. E. entstanden und im Verlaufe der Jahrhunderte im allgemeinen auch geblieben. In der starken Betonung des Krönungsmantels, der hier zu der nie fehlenden Dornenkrone hinzutritt, und in einer hoheitsvollen Zurückhaltung des Schmerzensausdrucks sind die im allgemeinen eindeutigen Unterscheidungsmerkmale zum C. i. E. zu erkennen. Dagegen sind die gebräuchlichen Bezeichnungen nicht immer so klar, und manche Herrgottsruh-Kapelle (anscheinend im Anschluß an die schon früh – 1187 – genannte Jerusalemer Kirche „Le repos“ [1, 2] im späten MA verbreitet) und Herrgottsruh-Wallfahrt (meist nach-m.a. Zeit: z. B. bei Friedberg [11], bei Rottweil, Schwäbisch-Gmünd, Trochtelfingen, Haigerloch, bei Ilmmünster) gilt einem Bild des C. i. E. der oben behandelten Typen. Auch wird die Bezeichnung Herrgottsruhbild mitunter für die wesensverschiedenen Darstellungen des an die Säule gefesselten C., der im Kerker steht, verwendet [8], welche erst in nach-m.a. Zeit vorkommen (s. Sp. 687ff.).
Hat der C. i. E. durch die Vielgliedrigkeit der in ihm vereinigten ikonographischen Wurzeln zugleich eine mehrdeutige Aussage und eine Prägnanz der ihm eigentümlichen Typiken empfangen, so ist das Herrgottsruhbild offenbar allein aus der szenischen Darstellung der Dornenkrönung Christi entstanden (wenngleich es auch der Ruhe auf dem Kreuzweg oder der Verspottung unter dem Kreuz, vor allem dem Ecce Homo entsprechen könnte – wie es denn auch wohl Ecce homo genannt wird [8]). Hier ist in der Tat wohl einmal der von der Forschung viel berufene Entstehungsvorgang eines Andachtsbildtypus in der Isolierung der Hauptgestalt aus dem szenischen Beiwerk heraus zu erkennen, zu welcher das stationär vereinzelnde Bilddenken der Gottesfreunde des 14. Jh. beigetragen haben mag. Die Gebärde der gefesselten (nicht nur fessellos gekreuzten) Hände oder des Haltens der Krönungsinsignien folgt durchweg der Dornenkrönungsszene. So kommt es, daß bei manchen Herrgottsruhbildern bezweifelt worden ist, ob sie selbständige Bildwerke seien. Jedoch kann es sich bei ihnen im allgemeinen nicht darum handeln, daß etwa von einer Dornenkrönung nur der Gekrönte die Zeiten überdauert hätte, während die Henkersknechte verloren gegangen wären.
Daß diese leidensvolle Ruhe des vereinsamten C. in der Ironie der aufgezwungenen Krönung aber zweifellos gemeint ist, bezeugen Beispiele der Malerei. Sie haben, dem Denkmälerbestande nach, überhaupt einen zeitlichen Vorrang, wenn man R. Oertels ansprechender Vermutung folgt, daß Guarientos Grisaille-Fresko der Paduaner Eremitani, aus Giottos Dornenkrönung herauskopiert, vorbildlich sei (Venturi, Storia dell’arte ital. V, fig. 728). Auch Fra Angelicos Darstellung in S. Marco mit den Abbreviaturen der Dornenkrönung und Verspottung Christi – in Art der arma Christi – ist hier zu nennen. In isolierender Ädikula erscheint das Herrgottsruhbild in der ferraresischen Tafel in London, N. G., und dem donatellesken Sportello-Relief in Padua.
Außer solchen italienischen Verwirklichungen gibt es aber nördlich der Alpen Herrgottsruhbilder zu A. 15. Jh. zumal in Schwaben, wo J. Baum [3; 8] zu dem C. aus Mattenhaus im L.M. Stuttgart die ersten Zusammenstellungen (Rottenburg, Riedlingen) gemacht hat.
Erst nach 1500 wird das Herrgottsruh-Bild auch in Norddeutschland angetroffen, wo ihn der viel beliebtere C. i. E. entgegengestanden haben mag.
Beispiele: Steinskulptur aus der Propsteikirche Dortmund (Abb. 7); niederrhein. Holzfigur im Rijksmus. Amsterdam; Liegnitz, Mus. (Braune-Wiese Nr. 161); späterhin das Altärchen im Suermondt-Mus., Aachen (Schweitzer II, Taf. 44); ein Epitaph des 17. Jh. an St. Jakob zu Stralsund. Doch scheint im ganzen auch fortan Süddeutschland die Domäne dieses Bildtypus geblieben zu sein: Trier, Liebfrauenkirche; Heiligenblut N.Ö.; Kloster Elchingen, M. 18. Jh. In Italien erscheint er noch 1591 in charakteristischer Andachtsbeziehung in einem Holzschnitt des Aless. Casolani auf dem Hausaltar einer meditierenden Frau; weiter bei G. de la Tour (Amsterdam, Rijksmus.).
Im Übergang zum C. i. E. befindet sich schließlich das Herrgottsruhbild in Hans Holbeins d. J. Basler Diptychon: der Mantel ist herabgesunken wie bei den niederländischen Darstellungen des nackten C. i. E., der Renaissanceaufbau erinnert aber an die Ädikulen der italienischen Vorbilder des Herrgottsruhbildes, die Schmerzensmutter nimmt endlich jene Sonderform des Erbärmdebildes (vgl. dort und oben I, 3 b) wieder auf, obwohl C. auch hier nicht die Todeswunden trägt. Hierzu ist auch die Elfenbeinfigur in München, B. N. M., um 1635 (Kat. Berliner Nr. 154/5) zu vergleichen.
Zu den Abbildungen
1. Braunschweig, Dom, Trauernder C. i. E. Eichenholz, gefaßt, 162 cm h. Niedersächsisch E. 14. Jh. Phot. Staatl. Bildstelle 5248.
2. Hans Leinberger, Trauernder C. i. E. aus dem Franziskanerkloster in Landshut. Lindenholz, gefaßt, 75 cm h. Um 1525. Berlin, D. M. Inv. Nr. 8347. Phot. Mus.
3. Hans Holbein d. Ä., Kreuzbereitung Christi, aus Hl. Kreuz in Augsburg (?). 88 cm h. Um 1500. Donaueschingen, Fürstl. Fürstenberg. Gem. Gal. Phot. Galerie.
4. Hannover, Landesmuseum, Kleiderteilung Christi, Teilbild der „Goldenen Tafel“ aus der Michaeliskirche in Lüneburg. 68,4 cm h. Niedersächsisch A. 15. Jh. Phot. Mus.
5. Hans Holbein d. Ä., Gefesselter C. i. E. mit der Schmerzensmutter auf Golgatha. 41,5 cm h. Um 1502. Hannover, Landesmuseum. Phot. Mus.
6. Kassel, Landesmuseum (ehemals Nürnberg, G. N. M.), Gefesselter C. i. E. Lindenholz, 131 cm h. Oberdeutsch um 1600. Phot. Christoph Müller, Nürnberg.
7. Dortmund, Städt. Mus., Herrgottsruhbild aus der Probsteikirche. Sandstein, 94 cm h. Westfälisch A. 16. Jh. Phot. Mus.
Literatur
1. J. A. Messmer, Über Albrecht Dürers Titelblatt zur kleinen Passion, Mitt. Z.K. 6, 1861, 217f. – 2. Ders., ebd. 14, 1869, 133ff. – 3. Julius Baum, Deutsche Bildwerke des 10. bis 18. Jh., Stuttgart 1917, S. 96f. – 4. Emile Mâle, L’Art religieux de la fin du moyen-âge en France, Paris 19222, S. 94ff. – 5. Karol Iwanicki, Figura Chrystusa frasobliwego, Warschau 1933–34. – 6. G. v. d. Osten, Der Schmerzensmann, Typengeschichte eines deutschen Andachtsbildwerkes von 1300 bis 1600, Berlin 1935. – 7. Comte J. de Borchgrave d’Altena, Les sculptures à l’Exposition d’art ancien, Bull. de la Soc. roy. d’archéologie de Bruxelles, 1935, S. 90f., Abb. 9 (Zusammenstellung belgischer Skulpturen). – 8. Konr. Bauer (= Julius Baum), Christus in der Rast und Herrgottsruh, zwei volkstümliche Andachtsbilder. Magazin für Pädagogik 100, 1937, S. 299f. – 9. Hans Kauffmann, Albrecht Dürers Dreikönigsaltar, Wallr. Rich. Jb. 10, 1938, 171ff. – 10. Sten Karling, Medeltida träskulptur i Estland, Göteborg 1946, S. 65, Abb. 46ff. (Zusammenstellung baltischer Bildwerke). – 11. Rich. Sattelmair, Dieser Ort ist schröckbahr. Erdkreis 1951, S. 103ff. – 12. G. v. d. Osten, Christus im Elend, ein niederdeutsches Andachtsbild, Westfalen 30, 1952. – 13. Ders., Hiob und Christus. Zur Typengeschichte eines „Andachtsbildes“ (Warburg Journal 1952/53).
Verweise
Empfohlene Zitierweise: Osten, Gert von der , Christus im Elend (Christus in der Rast) und Herrgottsruhbild, in: Reallexikon zur Deutschen Kunstgeschichte, Bd. III (1953), Sp. 644–658; in: RDK Labor, URL: <https://www.rdklabor.de/w/?oldid=92624> [16.09.2024]
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