Bileam
englisch: Balaam; französisch: Balaam; italienisch: Balaam.
Kurt Rathe (1940)
RDK II, 740–744
Bileam ist jener alttestamentarische, in den Schrift- und Bildquellen des MA. gemäß dem Sprachgebrauch von Septuaginta und Vulgata „Balaam“ genannte Seher, dem sich die ihm vom Moabiterkönig Balak anbefohlene Verfluchung des Volkes Israel auf göttliches Geheiß zur Segnung verwandelt. In der christlichen Kunst wird der Bericht 4. Mos. 22–24 nach zwei Richtungen bedeutsam: einmal insofern, als das „Märchen“ von der redenden Eselin mit der fortschreitenden Entwicklung der zyklischen Bibelillustration die einschlägigen Erzeugnisse der verschiedensten Zeiten, Länder und Kunstzweige immer häufiger zur bildlichen Wiedergabe herausfordert (Abb. 1, vgl. a. [1]) und zumindest seit dem 12. Jh. gelegentlich auch zu Einzeldarstellungen Anlaß gibt (Kupferstich vom „Meister des Bileam“, um 1450, L. I, 332, 1; G. 1); vor allem aber im Hinblick auf die den vierten Segensspruch (4. Mos. 24, 17) einleitende Prophezeiung: „Orietur stella ex Jakob ...“, die schon in altchristlicher Zeit von Justinus Martyr († 167) im Sinne einer messianischen Weissagung ausgelegt wird und die Gestalt B., der um ihretwillen in den Wandmalereien der Katakomben SS. Petrus und Marcellinus (1. H. 4. Jh.) dreimal mit der auf den Stern hinweisenden Gebärde wiederkehrt [2], von Anbeginn mit dem Wesen und Werden der typologischen Anschauungsformen (vgl. RDK I, Sp. 1081/82) verknüpft [3]. Jenseits der Tatsache, daß das „Prophetenspiel“ der mittelalterlichen Mysterienbühne den auf dem Eselchen einreitenden B. zu seinen Lieblingsfiguren zählt [4. 5], sind es auch in diesem Falle in erster Linie die auf Liturgie und Predigt beruhenden Voraussetzungen der „Concordantia veteris et novi testamenti“, denen der heidnische Magier seine Einbürgerung in den zugehörigen Bilderkreisen verdankt: innerhalb der deutschen Kunst dürften die von Ekkehard IV. vor 1031 für die Malereien des Mainzer Domes verfaßten „tituli“, die den Jakobsstern mit dem Stern der hl. drei Könige zusammenbringen, das älteste Beispiel bieten [6]. Wie ferner B. um M. 12. Jh. des öfteren in die Schilderungen der Wurzel Jesse [7] Eingang findet – neben den (verlorenen) Mosaiken der Kirche zu Bethlehem und einem Glasfenster zu Chartres sind auf deutschem Boden die Deckengemälde der Michaelskirche in Hildesheim und weiterhin ein Wolfenbüttler Psalter hervorzuheben –, so wird er bereits etwas früher in den Vorführungen des Glaubensbekenntnisses (Credo) heimisch [8], die den Jüngern Christi eine Reihe von recht willkürlich gewählten Vorherverkündern der kirchlichen Heilswahrheiten gegenüberzustellen pflegen: das in einem derartigen Zusammenhang mit dem Tragaltar des Eilbertus von Köln (Berlin, Schloßmus., Welfenschatz) einsetzende Vorkommen B.s ließe sich über Erasmus Grassers Büsten am Chorgestühl der Münchener Frauenkirche und Hans Dapratzhausers Reliefs am Chorgestühl von St. Martin zu Memmingen (1501–07) bis zu einer für sich stehenden Serie von „Propheten“- und Sibyllenbildern (Abb. 2) verfolgen, die Hermann torn Ring noch um 1570 dem Dome zu Münster zugedacht hat [9]. Ein besonderer Einfluß auf die Verbreitung der B.-Figur ist endlich den mannigfachen Ausgaben der Armenbibel (RDK I, Sp. 1072ff.) und des Heilsspiegels zuzuschreiben, die abgesehen davon, daß die Biblia pauperum den heidnischen Wahrsager als eine der die neutestamentlichen Szenen begleitenden „auctoritates“ verbildlicht, die einprägsamste Episode der biblischen Erzählung als Gegenbild der Geburt Mariä bzw. der Verkündigung der Geburt Mariä verwenden: Unter den von den erwähnten Kompendien inhaltlich abhängigen Werken der deutschen Monumentalkunst liefern zum einen die Mühlhausener Glasfenster (um 1340), zum andern die Fresken der 4., 6. und 9. Arkade im Domkreuzgange zu Brixen (erstes und letztes Viertel 15. Jh.) auch für die Behandlung des B.-Themas die wichtigsten Aufschlüsse [10].
Die überwiegende Mehrzahl der mittelalterlichen B.-Darstellungen übernimmt die den typologischen Bindungen des Vorwurfes urtümlich anhaftende Vereinigung illustrativer und sinnbildlicher Elemente, indem sie neben dem der Eselin den Weg vertretenden Engel den Stern der Prophezeiung zur Anschauung bringt. Erst die neuzeitliche Entwicklung begünstigt individuelle Gestaltungen des Themas, die auf die Mitsprache der Stern-Symbolik verzichten, um sich im Geiste der bildkünstlerischen Autonomie mit den unmittelbaren Gegebenheiten des zugehörigen Bibeltextes auseinanderzusetzen: Während Rembrandt schon in einem seiner frühesten Gemälde (Klass. d. K. 3. Aufl., S. 3) der Begegnung B.s mit dem Engel die stärksten dramatischen Akzente abgewinnt und in einer späteren Zeichnung (Klass. d. K. Handzeichn. I, S. 457) einen förmlichen Zweikampf vorführt, wagt ein süddeutsches Elfenbeinrelief um 1700 (München, B.N.M., Kat. Berliner IV, Nr. 232, Abb. S. 182) das Motiv von der störrischen Eselin ins Genrebildliche zu wenden.
In seiner äußeren Erscheinung wird der „Heidenprophet“ von altersher für gewöhnlich durch jene beiden Merkmale charakterisiert, deren kanonische Geltung aus den betreffenden Regeln des Malerbuches vom Berge Athos [11] hervorgeht: zum Zeichen der prophetischen Würde trägt er einen Vollbart, zur Andeutung der exotischen Herkunft mitunter einen von einem flatternden Tuch umwundenen Judenhut, in der Regel aber eine turbanähnliche Kopfbedeckung.
Zu den Abbildungen
1. Lübecker Bibel. 1494 bei Stephan Arndes in Lübeck gedruckt. Nach M. J. Friedländer, Die Lübecker Bibel, München 1923, Abb. 38.
2. Hermann tom Ring (1521–97), Bileam mit der Inschrift „Orietur stella ex Jacob et consurget Birga de Israhel et percutiet duces Moab vastabitque filios Seth“. Augsburg, G.G. Phot. Bayer. Staatsgemäldeslgen München.
Literatur
1. Th. Ehrenstein, Das Alte Testament im Bilde, Wien 1923, Abb. 128–134. 2. Wilpert, Katakomben I, S. 199/200; II, S. 158, 159 und 165. 3. Molsdorf, Nr. 940, 944, 1022. 4. P. Weber, Geistliches Schauspiel und bildende K., Stuttgart 1894, S. 43ff. 5. Mâle I, S. 143, 172ff. 6. Schlosser, Quellenbuch, S. 175. 7. A. Watson, The early iconography of the tree of Jesse, London 1934. 8. E. Wernicke, Die bildliche Darstellung des apostolischen Glaubensbekenntnisses in der dt. K. d. MA., Christl. K.blätter 1887–93. 9. K. Hölker, Die Malerfamilie torn Ring, Münster 1927, S. 76, Verz. Nr. 52. 10. J. Walchegger, Der Kreuzgang im Dom zu Brixen, Brixen 1895, S. 56, 61 62, 71, 96, 113, 120. 11. Das Handbuch der Malerei vom Berge Athos, übersetzt von Godehard Schäfer, Trier 1855, S. 165, 207.
Dieser Text wird veröffentlicht gemäß der "Creative Commons Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 3.0 Deutschland Lizenz". Eine Nachnutzung ist für nichtkommerzielle Zwecke in unveränderter Form unter Angabe des Autors bzw. der Autorin und der Quelle gemäß dem obigen Zitationsvermerk zulässig. Bitte beachten Sie dazu die detaillierten Angaben unter http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/de/.