Architrav
englisch: Architrave; französisch: Architrave; italienisch: Architrave.
Ernst Fiechter (1936)
RDK I, 1014–1018
Ital. Wortbildung der Renaissancezeit auf griech. Grundlage (vgl. Archivolte); die antike und mittelalterliche Literatur kennt das Wort nicht; sie benützt das griech. Ἐπιςτύλιον (Epistyl).
A. nennt man den über Säulen oder Pfeilern horizontal gelegten Balken aus Holz oder Stein, einerlei ob es sich um freistehende oder um angelehnte Stützen (Halbsäulen, Pilaster) handelt. Der A. ist also das unterste und wichtigste Glied des Gebälkes [2-8].
Antike. Im dorischen Stil ist der A. ein schwerer glatter Steinbalken mit flacher oberer Abschlußleiste (taenia), an der in gleichen Abständen und in Übereinstimmung mit den Triglyphen des Frieses kleine Leisten (regulae) mit den „Tropfen“ (guttae) angebracht sind (Abb. 1). Im ionischen Stil ist der A., die ursprüngliche Holzform verratend, ein Balken aus zwei oder drei übereinandergelegten Streifen (fasciae) anfänglich von gleicher, später von verschiedener Breite mit einer Leistenbekrönung (Abb. 2). Die römische Architektur bevorzugt später den A. mit zwei Fascien und verbindet diese durch eine Schmuckleiste (Kymation [9], Abb. 3).
Mittelalter. Der frühchristliche Sakralbau gibt den A. als Säulenverbindung fast allgemein zugunsten des Bogens auf (bewußte Ausnahmen macht Rom: Alt-St. Peter, S. M. Maggiore, vgl. Sp. 861/62, Abb. 3, S. Lorenzo, S. Stefano rotondo u. a.; seltener ist der A. in altchristlichen Kirchen des Ostens: Bethlehem, Geburtskirche; Konstantinopel, Basilika des Johannes Studios und der Hll. Sergios und Bacchus). Die mittelalterliche Baukunst des gesamten Abendlandes folgt ihr darin (vgl. Arkade). Nur ganz vereinzelt kommt der A. vor, nämlich da, wo antike Vorbilder einwirken, wie in der Karolingerzeit, z. B. bei der Blendarchitektur an der Königshalle in Lorsch (Sp. 265/66, Abb. 7) oder in der Wiperti-Krypta in Quedlinburg (10. Jh., Abb. 7). Häufiger findet sich der A. in der Kleinkunst bei der Darstellung von Architekturen, auf Elfenbeinschnitzereien (vgl. Sp. 512, Abb. 1)und in Miniaturen, insbesondere bei den Kanontafeln der antikisierenden Gruppen (Aachen, Kaiserevangeliar; Epernay, Ebo-Evangeliar). Eine Erinnerung an den A. erhielt sich auch in dem mancherorts zwischen Kapitell und Bogenfuß eingeschobenen Kämpfer (vgl. Sp. 12ff. und Sp. 15/16, Abb. 3-5).
Auch in romanischer Zeit herrscht – bei Freistützen wie im Blendsystem – fast ausschließlich die Arkade. Nur im Bereich der südlichen Protorenaissance kommt gelegentlich Gebälkeverbindung von Säulen und Halbsäulen in größerem Umfang vor (Parma, Baptisterium; Modena, Kathedrale, Lettner; häufig bei Kanzeln); am ausgeprägtesten begegnet der A. an Portikusanlagen (Arles, St. Gilles) und in der ädikulaartigen Umrahmung von Portalen (St. Gabriel, St. Restitut, Avignon, Pavia). Der Norden kennt nur in der Einziehung eines Türsturzes unter offenem Bogenfeld (Limburg a. H.) oder in der sturzartigen Abgrenzung eines unteren Tympanonstreifens (Reichenhall; Straubing; Basel, Galluspforte, Sp. 947/48, Abb. 6; vgl. auch Regensburg, St. Emmeran, Doppelportal) etwas dem A. Verwandtes und möglicherweise von ihm Abgeleitetes. Die Gotik gibt bald auch diese letzte Erinnerung an den A.-Gedanken auf, der erst in ihrer spätesten Entwicklungsstufe im stärker betonten Türsturz gelegentlich wieder auftaucht (Straßburg, Münster, Laurentiusportal, Sp. 954, Abb. 13; Münster i. W., westl. Domportal 1516ff.). Werden Zwillingssäulen (gekuppelte Säulen) durch ein gemeinsames Gebälk verbunden (Speyer, Afrakapelle; Maulbronn, Laienrefektorium; Gelnhausen, Pfalz), so handelt es sich mehr um einen Kämpfer als um A.; das gleiche gilt von den Zwerggalerien, bei denen die freistehenden Säulen mit der Rückwand durch Gebälkstücke verbunden zu sein pflegen, auf denen die einzelnen Quergewölbe ruhen. Am nächsten kommen dem A.-Gedanken gewisse Gliederungen in der Kleinarchitektur (Gernrode, Hl. Grab. Sp. 943/44, Abb. 2; Magdeburg, Ambo, Sp. 634, Abb. 5; Altarfronten, Sp. 415ff., Abb. 9, 13 u. 16; Tragaltäre: Eilbertusaltar im Welfenschatz). Der Ersatz des Bogenfrieses durch ein von Pilastern und Konsölchen getragenes A.-Gesims gehört in Deutschland zu den größten Seltenheiten (Trier, Dom, Erdgeschoß der Treppentürme des Popponischen Baus).
Renaissance, Barock. Erst die im 16. Jh. eindringenden antiken Formen bringen wieder das gerade Gebälk über Säulen. Früheste Beispiele bei süddeutschen Künstlern wie Dürer (Marienleben, Darbringung im Tempel, B. 88; der zwölfjährige Jesus im Tempel, B. 91, um 1502-05), Hans Burgkmair (Petersbasilika in Augsburg, 1501; Heilige Familie von 1511 in Berlin; Holzschnitt Kaiser Maximilian, 1518), bei Hermann Vischer d. J. (Renaissance-Entwurf zum Sebaldusgrab im Louvre, 1516), Hans Holbein d. J. (Entwürfe für Wandmalereien und Glasfenster in Basel; vgl. auch Sp. 908, Abb. 2), Hans Baldung, Adolf und Hans Daucher usw. Augsburg ist das Einfallstor für den Süden, Straßburg für den Westen, Köln und die Hansestädte für den Norden. Ein selbständiges, nur mittelbar von italienischem oder französischem Einfluß berührtes Beispiel bietet der obere Teil des Kiliansturms in Heilbronn, um 1525-29 von Hans Schweiner. Seit rund 1520 finden sich zahlreiche Portale mit A. über Säulen und Pilastern ([10]; Sp. 170, Abb. 4); gleichzeitig begegnet der A. an Altären (Sp. 555, Abb. 24, Sp. 556, Abb. 27), an Grabmälern (Sp. 169, Abb. 1), Brunnen (Mainz, Marktbrunnen 1526) usf. Seit 1550 wird das Motiv von Säulen mit Gebälk allgemein in die Fassadenkomposition aufgenommen. Berühmte reife Beispiele sind das Schloßportal in Brieg von Jakob Bähr 1552, der Fürstenhof in Wismar 1553/54, das goldene Tor in Dresden 1555, der Ottheinrichsbau des Heidelberger Schlosses, seit 1556, die erste Komposition in großem italienischem Stil auf deutschem Boden (Sp. 953/54, Abb. 14), das Rathausportal in Rothenburg um 1580 (Sp. 171, Abb. 3) u. a. m. Die Bogenarchitektur bei Hallen bleibt daneben noch lange üblich, verbindet sich aber mit Pfeilern, Säulen und A.-Gebälk nach römisch-antiker Art schon 1569 an der Rathausvorhalle in Köln von Wilhelm Vernukken aus Kalkar [12].
Vom E. 16. Jh. ab erscheinen die ersten Säulenbücher (s. Architekturtheorie, Sp. 968f. und [13]), die weiterhin den größten Einfluß auf die Entwicklung des Stils haben und dem horizontalen Gebälk über Säulen zum vollen Sieg verhelfen. A. ist dabei stets das untere Glied des ganzen Gebälks, meist in ionisierenden Formen, also mit Faszien versehen, verwendet nach den Vorbildern von Vignola, Palladio (Abb. 4, 5) und Serlio.
Das 18. Jh. versucht im deutschen Barock Um- und Neubildungen. A. bald mit dem übrigen Gebälk zu einer großen flüssigen Gesimsform verbunden (Abb. 6), bald zur schmalen Leiste verkümmert, besonders bei Innenarchitekturen, z. B. Wien, Belvedere, Großer Saal um 1715, oder verdoppelt an den mächtigen Risaliten der Südseite des Berliner Schlosses um 1700 von Andreas Schlüter [14]. Die strengere französische Schule behält den A. als Hauptglied stets in klassischer Form, unterdrückt aber da und dort wohl im Anschluß an römische Vorbilder (z. B. Baldassare Peruzzis Palazzo Massimi in Rom [11]) den Fries bei toskanischen Ordnungen. Beispiele dieser Art sind auch in Deutschland an den Bauten der französischen Architekten in der 2. H. 18. Jh. nicht selten: Stuttgart, Neues Schloß von Phil. de la Guépière nach Leopold Rettis Tod seit 1751. Bei barocken aufgebogenen Gebälken bleibt der A. meist auf Pfeilern oder Säulen abgekröpft liegen. Er bewahrt durchweg, bis an das Ende der mit antiken Formen arbeitenden Architektur in unserer Zeit, seine ihm wesentliche Eigenschaft als tragender Balken über wirklichen oder Scheinöffnungen.
Im Holzbau als Balken („Rähm“) über stehenden Holzsäulen ist der A. das ganze Mittelalter hindurch bis weit ins 17. Jh. hinein üblich.
Zu den Abbildungen
1. Dorischer Architrav vom Parthenon, 5. Jh. v. Chr.
2. Ionischer Architrav vom Athenetempel in Priene 4. Jh. v. Chr.
3. Römisch-ionischer Architrav vom Ehrenbogen des Septimius Severus, 203 n. Chr.
4. Dorischer Architrav nach Palladio, 16. Jh.
5. Toskanischer Architrav nach Palladio, 16. Jh.
6. Barocker Architrav der Stiftskirche in Melk (1702 bis 1726).
7. Längenschnitt durch die Wiperti-Krypta in Quedlinburg.
Nach Zeichnungen des Verf.; 6 nach H. Hantsch, Jakob Prandtauer, Wien 1926, Abb. 20; 7 nach A Zeller, Kirchenbauten Heinrichs I. und der Ottonen Berlin 1916, Taf. 2.
Literatur
1. Enciclopedia Italiana 4, 1929, S. 78ff. 2. I. M. v. Mauch, Die architektonischen Ordnungen der Griechen und Römer, Berlin 1862ff. 3. Hittenkofer, Vergleichende architektonische Formenlehre, Leipzig o. J. 4. Felix Laureys, Cours classique d’architecture, Lüttich und Leipzig 1870. 5. u. 6. J. v. Egle, Praktische Baustil- und Bauformenlehre, Stuttgart o. J.; dazu Textband von Ernst Fiechter, ebd. o. J. 7. J. Bühlmann, Die Architektur des klassischen Altertums und der Renaissance, Stuttgart o. J. 8. F. Schubert v. Soldern, Architektonische Formenlehre Zürich 1907. 9. Fritz Toebelmann, Römische Gebälke, hrsg. v. Ernst Fiechter und Chr. Huelsen, Bd. I, Heidelberg 1923. 10. K. E. O. Fritsch, Denkmäler der deutschen Renaissance, Berlin 1890/91. 11. Heinr. v. Geymüller, Baukunst der Renaissance, Hdb. d. Architektur II, 6. H. 1, Stuttgart 1898. 12. Carl Horst, Die Architektur der deutschen Renaissance, Berlin 1928. 13. V. C. Habicht, Die deutschen Architekturtheoretiker des 17. und 18. Jh., Zs. f. Architektur- und Ingenieurwesen N. F. 21, 1916, S. 1ff. und 261ff. 14. Robert Dohme, Barock- und Rokokoarchitektur, Berlin 1892.
Verweise
Empfohlene Zitierweise: Fiechter, Ernst , Architrav, in: Reallexikon zur Deutschen Kunstgeschichte, Bd. I (1936), Sp. 1014–1018; in: RDK Labor, URL: <https://www.rdklabor.de/w/?oldid=89652> [06.10.2024]
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